Die Eisenbahn
von Reichsbahnrat Walther
Ein Vierteljahrhundert war seit der Eröffnung der ersten deutschen Eisenbahn Nürnberg – Fürth vergangen, als im Jahre 1860 die Königlich-Preußische Ostbahn in ihrer ganzen Länge vollendet und damit auch Gumbinnen, die östlichste Regierungshauptstadt Deutschlands, an das damals schon recht ausgedehnte deutsche Eisenbahnnetz angeschlossen wurde.
Zwar war schon bald der Gedanke an eine Verbindung der Landeshauptstadt mit den Ostprovinzen aufgetaucht, aber während in anderen Teilen Deutschlands bereits in den folgenden Jahren zahlreiche Eisenbahnverbindungen entstanden, konnte dieser Gedanke sich nicht so rasch in die Wirklichkeit umsetzen. Die Gründe liegen klar zutage. Der Eisenbahnbau blieb in Preußen nach dem Gesetz von 1838 der Privatunternehmung überlassen, und diese wandte sich zunächst dem Bau solcher Linien zu, von denen sie sich einen lebhaften Verkehr und demgemäß eine angemessene Verzinsung des Anlagekapitals versprechen durfte.
Da man diese vom Bau der Ostbahn nicht erwartete, andererseits aber eine engere Verknüpfung so weit abgelegener Landesteile mit der Hauptstadt nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen wichtig war, entschloss sich der Staat, selbst den Bau zu übernehmen. Im Jahre 1842 wurde die Frage zum ersten Male von den ständigen Ausschüssen sämtlicher Provinzen in Berlin behandelt, jedoch gingen noch mehrere Jahre ins Land, ohne dass das Problem der Finanzierung gelöst wurde, was in der Hauptsache darauf zurückzuführen war, dass die Aufnahme von Anleihen in Preußen damals verfassungsrechtlich umstritten gewesen ist. Interessant ist für uns dabei hauptsächlich die Tatsache, dass zum endlichen Baubeginn im Jahre 1848 der Wunsch den Ausschlag gab, den damals zahlreichen Berliner Erwerbslosen durch den Bau der Ostbahn Arbeit und Brot zu geben. Die Arbeiten wurden in den folgenden Jahren dann so energisch weitergetrieben, dass im Jahre 1851 Bromberg, 1852 Danzig und 1853 Königsberg erreicht waren. Schon damals baten die beteiligten Städte und Kreise um die Fortsetzung der Bahn bis zur Grenze. Dieser Wunsch fand aber seine volle wirtschaftliche Berechtigung erst dann, wenn über die Grenzen hinaus der Anschluss an das erst in seinen Anfängen begriffene russische Eisenbahnnetz hergestellt werden konnte. Die langwierigen Verhandlungen hierüber und der zögernde Baufortgang an der Bahnstrecke Petersburg – Warschau ermöglichte erst im Jahre 1858 den Weiterbau der Ostbahn von Königsberg bis zur Landesgrenze. Bald hatten nun auch Gumbinnens Einwohner Gelegenheit, den fortschreitenden Bau des neuartigen Verkehrsweges zu beobachten.
Ein derartiger Eisenbahnbau erregte damals ein gewaltiges Aufsehen durch den ungewohnten Umfang der auszuführenden Erdbewegungen. Allein zum Schütten der Dämme wurden Hunderte, oft Tausende von Arbeitern benötigt, die den Boden lösten und ihn mit Schubkarren zur Stelle schaffen mussten. Dazu kam der Bau der zahlreichen Bahnhofs- und Dienstgebäude, der Durchlässe und Brücken, von denen die Angerappbrücke bei Kanthausen durch ihre für diesen flachen Landstrich beträchtliche Höhe und Länge aufrichtige Bewunderung fand. Für die heimischen Arbeitskräfte bot sich lohnende Beschäftigung, und der Zustrom fremder Arbeitskräfte belebte ebenfalls die einheimische Wirtschaft.
Am 4. Juni 1860 war dann endlich der lang ersehnte Tag gekommen, an dem die Strecke von Königsberg bis Stallupönen (Ebenrode) feierlich eröffnet und damit auch Gumbinnen der so lebhaft begehrte Vorzug einer Eisenbahnverbindung teilhaftig wurde. Ihre besondere Weihe erhielt die Eröffnungsfeierlichkeit durch die Anwesen¬heit des damaligen Prinzregenten Wilhelm von Preußen, des späteren Kaiser Wilhelm I., der mit dem Eröffnungszuge am frühen Nachmittag in Gumbinnen eintraf, wo er nach der feierlichen Begrüßung durch die staatlichen und städtischen Behörden die Truppen besichtigte. Anschließend wurde die Fahrt bis Stallupönen (Ebenrode) fortgesetzt. Von dort aus kehrte der Prinzregent wieder nach Gumbinnen zurück, das ihm zu Ehren prächtig illuminiert hatte.
Fast ein halbes Jahrhundert blieb die Ostbahn die einzige Gumbinnen berührende Eisenbahn. Nach der geografischen Lage der Stadt kam auch der Bau einer weiteren Hauptbahn für den Durchgangsverkehr nicht in Frage. Als jedoch Preußen nach Abschluss der großen Verstaatlichungsaktion gegen Ende des vorigen Jahrhunderts daran ging, Jahr für Jahr die noch bestehenden Maschen des Hauptbahnnetzes durch den Bau von Nebenbahnen auszufüllen und damit das Hinterland dem Eisenbahnverkehr zu erschließen, begann auch für Gumbinnen wieder eine Zeit des Eisenbahnbaues. Zunächst wurden im Jahre 1904 die Mittel für den Bau der 49,1 km langen Nebenbahn Gumbinnen – Wehrkirchen (Szittkehmen) bewilligt. Sie sollte vor allem das landschaftlich reizvolle, bis dahin abseits der Verkehrswege gelegene Gebiet der Rominter Heide erschließen und den Verkehr mit der Regierungshauptstadt erleichtern. Durch den späteren Weiterbau der Strecke über Meschen – Bodenhausen nach Goldap und der Bahnlinie Stallupönen (Ebenrode) – Tollmingkehmen (Tollmingen) war die Rominter Heide an allen Stellen zu erreichen.
Am 1. Oktober 1907 wurde die Teilstrecke Gumbinnen – Tollmingkehmen (Tollmingen), im Sommer 1908 die Reststrecke dem Verkehr übergeben. Im selben Jahre bewilligte der Landtag die Mittel für den Bau einer weiteren, für Gumbinnen bedeutungsvollen Eisenbahnlinie, nämlich der 67,2 km langen Strecke Angerburg – Gumbinnen. Vor allem bedingte der Bau beider Bahnen eine wesentliche Erweiterung der Bahnhofsanlagen in Gumbinnen, insbesondere der Bahnsteiganlagen. Der Platz hierfür konnte nur gewonnen werden, indem der alte, dem wachsenden Verkehr ohnehin nicht mehr genügende Güterschuppen abgebrochen und ein Neubau errichtet wurde. Aus dem gleichen Grunde mussten die Ladestraßen weiter vom Empfangsgebäude und den Bahnsteigen abgerückt werden. Schließlich war für die Unterbringung der Lokomotiven der neuen Strecken ein neuer, größerer und günstiger gelegener Lokomotivschuppen notwendig. Die Zahl der Gumbinner Eisenbahnbeamten vermehrte sich ebenfalls nicht unbeträchtlich, vor allem dadurch, dass ein Teil des Lokomotiv- und Zugbegleitpersonals für die neuen Strecken in Gumbinnen stationiert sowie eine weitere Bahnmeisterei eingerichtet wurde.
Bald nachdem am 1. Juli 1914 auch die Strecke Angerburg – Gumbinnen dem Betrieb übergeben worden war, drohten schon die Wetterwolken des heraufziehenden Ersten Weltkrieges am Horizont. Ehe die Vorteile dieser neuen Verkehrsverbindung für das Wirtschaftsleben der Stadt sich voll auswirken konnten, brach der Erste Weltkrieg und mit ihm eine schwere Zeit für Gumbinnen herein. Aufmarsch-, Nachschub-, Rückzug- und Flüchtlingstransporte erforderten Tag und Nacht die Anspannung aller Kräfte. Zahlreich und mannigfach waren die Schäden und Zerstörungen, die der Russeneinbruch zur Folge hatte, aber mit um so größerer Tatkraft wurden sie nach der Befreiung Gumbinnens wieder beseitigt. Allerdings konnte es bei der langen Dauer des Krieges, dem Mangel an Arbeitskräften und Rohstoffen und den ungeheuren Anforderungen, die der Krieg an Menschen und Material der Eisenbahn stellte, nicht ausbleiben, dass nach Kriegsende und nach dem Wiedereintreten geregelter wirtschaftlicher Zustände ein umfangreiches Wiederaufbauwerk einsetzen musste. Eine Erweiterung und Verbesserung der Bahnanlagen, wie man sie von der Vorkriegszeit her gewohnt war, trat zunächst zurück.
Erst dann, als Landwirtschaft, Handwerk und Handel nach dem Kriege und der ihm folgenden Inflation sich erholten, wodurch sich auch der Verkehr von Jahr zu Jahr hob, konnte an die Einrichtung neuer Verkehrsverbindungen herangegangen werden. Hierzu bediente sich die Reichsbahn des Kraftwagens und richtete zunächst mit angemieteten, später eigenen Wagen eine Linie von Gumbinnen nach Nauningen ein. So haben auch die nördlich von Gumbinnen gelegenen Ortschaften eine regelmäßige Beförderungsgelegenheit erhalten. Der Reiseverkehr zwischen Ostpreußen und dem übrigen Reich erfuhr durch die Einführung der Ostpreußenrückfahrkarte eine beträchtliche Steigerung und Belebung. Das wirkte sich auch für Gumbinnen als Ausgangspunkt zum Besuch der landschaftlich so reizvollen Rominter Heide vorteilhaft aus. Als wir aus der Heimat vertrieben wurden, besaß Gumbinnen einen modernen, neuen Bahnhof mit Bedachung, Unterführungen zu den einzelnen Bahnsteigen und sonstige neuzeitlichen Einrichtungen.
Der Zweite Weltkrieg machte der deutschen Eisenbahngeschichte in unserer Heimat ein vorläufiges Ende. Am 14. Januar 1945, abends um ½ 7 Uhr, ist die letzte deutsche Lok aus Gumbinnen hinausgefahren.
Unmittelbar nach Kriegsende wurde die Ostbahn von den Siegern auf russische Breitspur umgestellt.