Jungort
Jungort
(Kiaulkehmen) mit Ganderkehmen (früher Ortsteil) Heinrichsdorf (Gut) und Gerschwillauken (früherer Ortsteil):
Gemeindevorsteher Gustav Perrey. —
2 Besitzer, 1 Rentner, 1 Melker, 1 Wirtin, 1 Wirtschaftslehrling. —
Kiaulkehmen ist der Geburtsort der ostpreußischen Heimatdichterin Frieda Jung
Die innere Verbundenheit mit den Menschen ihrer Heimat bestimmte ihre Dichtkunst. Gleich ihre ersten Gedichte, die 1900 herauskamen, zeichneten sich durch eine tiefe Wärme der Empfindung aus. Gedanken und Lieder voller Schlichtheit und Wahrheit erfüllen das Wesen und Leben von Frieda Jung, die dazu bekannte: „Ein paar Töne davon weht der Wind in die Welt hinaus. Und nun geschieht das Unfaßbare, hin und wieder bleibt einer stehen und lauscht. Es mag ihm wohl zumute sein, als hörte er an einem schönen, klaren Herbstabend ganz fern vom Dorf her das Spiel einer Harmonika. Kunstlos, leise, sehnsüchtig.“ — Frieda Jung sah und schilderte mit Herzensgüte, tiefem menschlichen Verstehen und recht oft mit einem feinen Humor die Dinge ihrer Welt. Die in Insterburg lebende Dichterin war im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts durch ihre Lesungen und Gedichtbände in Ostpreußen so bekannt geworden, daß sie im Sommer 1912 im Dorfe Buddern, Kr. Angerburg, ein kleines eigenes Heim beziehen konnte, das sie sich aus den Erträgen ihrer Arbeit geschaffen hatte. Aber wieder verschonte Frieda Jung das Schicksal nicht und zwang sie mit ihren masurischen Landsleuten 1914 zur Flucht vor den Russenarmeen. Dieses Ereignis scheint die empfindsame Frau sehr hart und tief getroffen zu haben. Sie wurde nun zur Künderin Ostpreußens, zur Sängerin ostpreußischer Landschaftsschönhei-ten und Heimatliebe. An ihrem 60. Geburtstage 1925 erfuhr Frieda Jung im Rathaussaal zu Insterburg von dieser Stadt und der ganzen Provinz Ostpreußen würdige Ehrungen. Aber bald stellten sich durch Krankheit bittere Sorgen ein, so daß der Goethe-Bund eine Sammlung für sie einleiten mußte. Frieda Jung mußte sich einer Operation unterziehen, die ihr beste Genesungsaussichten eröffnete. Da versagte nach einer schweren Grippe ihr Herz, und am 14. Dezember 1929 schloß sie die Augen für immer. Auf ihrem Grab in Insterburg stand ein schlichter Stein, der außer ihrem Namen ein von Professor Hermann Brachen geschaffenes Bronzerelief mit dem Antlitz der Dichterin trug. —
Auf die ersten, 1900 erschienen „Gedichte“ von Frieda Jung folgte 1906 ein Sammelbändchen, dessen Titel man nicht unter den Gesichtspunkten gegenwärtiger Auffassungen betrachten darf. Frieda Jung nannte ihn „Maienregen — Gottessegen“. Dieses Bändchen fehlte vor 1914 fast in keinem ostpreußischen Bürgerhaushalt. Es folgte der weitere Band „Freud und Leid“, dann 1908 „Neue Gedichte“. „In der Morgensonne“ war der Titel des ersten Bandes der entzückenden Kindheitserinnerungen von Frieda Jung, der 1910 erschien. Im Ersten Weltkriege hat sie mit Lesungen gerade aus diesem Buch in mehr als 60 mitteldeutschen Städten vielen Tausenden von Zuhörern ein lebensnahes Bild vom ostpreußischen Wesen und von den Menschen an der Bernsteinküste und an den Masurischen Seen vermittelt. Der Dürer-Bund brachte in den Kriegsjahren drei Bändchen von Frieda Jungs Schriften heraus, von denen die Gedichte „Aus Ostpreußens Leidenstagen“ in ganz Deutschland von dem Opfer kündete, welches die östlichste Provinz des Reiches hatte darbringen müssen. Ihre letzte Sammlung, die unter dem Titel „Gestern und heute“ ein Jahr vor ihrem Tode erschien, ist noch oft im Ostmarken-Rundfunk und im Sender Königsberg und Heilsberg sowie in der ostpreußischen Presse gewürdigt worden.
Sehr verbreitet waren in Frieda Jungs Heimat auch ihre Kinderlieder. Lassen wir noch die folgenden Verse für Frieda Jung und ihr Werk sprechen:
„Herr, gib uns helle Augen, die Schönheit der Welt zu seh’n,
Herr, gib uns feine Ohren, Dein Rufen zu versteh’n,
Und weiche, linde Hände für unsrer Brüder Leid
Und klingende Glockenworte für uns’re wirre Zeit!
Herr, gib uns rasche Füße zu uns’rer Arbeitsstatt
Und eine stille Seele, die Deinen Frieden hat!“
„Was kam, was kommt — ich weiß nur eins:
Hier ist mein Herz, und das ist deins,
O Heimat, bis zum Tode.“
Das war Ostpreußens Frieda Jung, eine kleine, zarte Frau, der sich einst viele Herzen in Liebe und Verehrung zuneigten. Im Jahre 1965 erschien im Verlage Gräfe & Unzer, München, eine von M. A. Borrmann ausgewählte Anthologie aus den Werken der Dichterin: „Auch ich hab‘ mit dem Schmerz zu Tisch gesessen .. .“) —
Ferner befindet sich eine Planskizze des Ortes im Archiv der Kreisgemeinschaft, in die Lehrer F. Schlenther die 15 Anwesen des Ortes eingetragen hat:
Zur Schule gehörten 11 Morgen Dienstland, das Schulgebäude war ursprünglich das Anwesen des Gemeindehirten. Die Kinderzahl war stets gering. Im Winter 1932/33 waren es für einige Wochen nur 10. Sie kamen nur aus Jungort. Nach der Eingemeindung von Gerschwillauken stieg die Zahl auf 30—40. Damit war die Gefahr gebannt, daß man die Schule auflösen könnte. Äußerlich machte das Gehöft gar nicht den Eindruck einer Schule. Es sah so aus wie die andern Bauerngehöfte: 3 Gebäude, Wohnhaus, Scheune und Stall, umschlossen den Hof. Die zwischen den Gebäuden offenen Stellen waren durch einen Zaun abgeschlossen. Außerdem bestand ein großer Garten wie bei allen andern Gehöften auch. Die Scheune war schon ziemlich alt Die Bretterwände erschienen vom Wetter grau verwittert. Der Stall dagegen war noch ziemlich neu und erst in den zwanziger Jahren gebaut, wie das Wohnhaus aus roten Ziegeln, unverputzt, aber sauber verfugt. An dem Stall befand sich noch ein zugehörender Teil aus Holz mit einem Raum für Brennmaterial und eine Schirrkammer. Der letzte Raum ist sogar sehr wichtig; denn dort war der Lehrer sein eigener Handwerker. Stall und Wohnhaus standen mit dem Nordgiebel direkt an der Straße, der Stall eigentlich schon auf der Straße, wodurch die Wegführung stark eingeengt wurde. Das Wohnhaus oder auch Schulhaus hatte an der Hofseite eine Tür zur Wohnung eine zum Klassenraum, der aber vom Hof nicht sichtbar war. Die Grundmauern waren niedrig, das Dach weit überstehend, die Fenster dementsprechend klein. Der Ur- oder Erstbau ist es gerade nicht mehr; niemals aber hat man das Schulhaus abgebrochen oder von Grund auf neu gebaut. Wenn irgendetwas daran baufällig war, dann wurde entweder der Unterbau erneuert, vielleicht auch nur Teile davon, oder es wurden Teile des Daches durchrepariert, daher hohe Schwellen, uralte Türen, kleine Fenster, niedrige Zimmer und eine für heutige Verhältnisse übermäßig starke Dachkonstruktion. Alles alt. Die dicken Deckenbalken sind aber indessen durch untergezogene Gipsdecken unsichtbar geworden. Viele Jahrzehnte bestand das ganze Haus nur aus ingesamt 4 Räumen: Klassenraum, Küche und zwei Zimmer. Im Anfang dieses Jahrhunderts ist man dann aber doch zu der Einsicht gekommen, daß es so nicht weitergehen kann. So wurde denn die Giebelseite nach Süden in den Garten hinein zum Klassenraum ausgebaut. Die neue Klasse war für 30 Schüler gerade noch ausreichend. Das war aber schon zu klein; für einen zeitgemäßen Klassenschrank fehlte es bereits an Platz; mehr Schüler durften nicht kommen. Eine Erweiterung der Klasse, verbunden mit der Modernisierung der Lehrerwohnung war in der Zeichnung auch fertig, als der Krieg begann. Die Klasse war aber hell und auch hoch genug. Die warme Sommersonne wurde durch einen riesigen Apfelbaum vor dem Fenster abgeschirmt. Pech! Wegen der Hitzeferien.
Noch einmal will ich auf das Schulhaus zurückkommen. Der alte Klassenraum wurde nach dem Anbau ein Zimmer der Dienstwohnung. 35 qm für eine Stube ist wohl etwas reichlich. Die ganze Wohnung hatte damit eine Größe von rund 130 qm; oben waren zwei Fremdenzimmer. Somit bestand die Wohnung aus Küche, Speisekammer und 5 Zimmern. Die beiden Fremdenzimmer waren, namentlich im Sommer, oft belegt.
Der Bürgermeister des Ortes erhielt anstelle von Bargeldentschädigung für seine Bürgermeistertätigkeit das Jagdrecht in der Jungorter Flur zugesprochen (ausgenommen Ortsteil Heinrichsdorf). An Jagdwild gab es allerdings nur Hasen und Rehe. Schwarzwild war nicht vorhanden. Dazu war für den Abschuß an Rehen nur eine ganz geringe Zahl freigegeben, ich glaube, es war im Sommer ein einziger Bock. —
Um 1935 kam es zur Bildung einer Wassergenossenschaft, die die Bartsch kanalisierte. Viel Arbeit machte der Straßendurchbruch, weil dort stark vertieft werden mußte. Ein Arbeiter hat dabei sein Leben eingebüßt. —
Erwähnt sei noch, daß jeder Bauer ein Stück eigenen Wald, die meisten auch noch ein Torfmoor hatten. Pranzkat besaß dicht am Jungorter Friedhof eine — allerdings nicht sehr ergiebige — Kiesgrube. —
Die Schulchronik, die der Vater von Frieda Jung, Lehrer Jung, um 1860 begonnen hatte, ist verloren. Es stand in ihr, daß die Schule 1734 gegründet worden sei.
Das älteste Bauerngeschlecht dürfte wohl Aschmoneit sein (litauisch).
Die Pest 1709/10 hat auch in Kiaulkehmen grassiert und einige Höfe freigemacht. Es kamen neue Bauern hinein, von denen sich am längsten Fürstenberg gehalten hat, der Schwiegervater von Karschuck. Frau Karschuck ist von Frieda Jung als Malchen Berg in die Literatur eingegangen. Die Höfe lagen ursprünglich eng zusammen um den Dorfteich herum, also ein geschlossenes Dorf. Aus den zahlreichen umliegenden Wäldern kam viel Wild in die Felder, besonders Wildschweine verwüsteten die tiefer gelegenen Fluren und wurden zur Landplage. Daher der Name Kiaulkehmen, auf deutsch Schweinedorf.
Nach der Separation in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bauten sich einige Bauern, deren Felder am weitesten ablagen, aus, z. B. Ragowski, Jung und Aschmoneit. Einige sind ausgestorben bzw. haben abgewirtschaftet. Ihre Höfe wurden willkommenes Kaufobjekt für die Tüchtigen, deren Höfe doch alle kaum größer als 40 Morgen waren. Das Insthaus von Paszerat ist der Rest eines solchen Bauernhofes. —
Der erste Lehrer im Ort hieß Vouilleme. Wenn Lehrer Friedrich Jung, der Vater der Heimatdichterin, krank wurde, vertrat Frieda ihn als Laienkraft im Unterricht. Das war damals noch möglich. Ihr bekanntestes Buch war „Morgensonne, Morgengold“, eine Jugenderinnerung. Von der hohen Küchenschwelle, dem Flieder vor dem Fenster bis zum Erlengebüsch am Vorflutgraben in der Wiese, das war bis 1945 alles noch da.
Die Umbenennung von Kiaulkehmen in Jungort erfolgte auf Antrag der Bewohner des Ortes und zwar ohne Widerspruch, der sonst bei allen Debatten regelmäßig in Erscheinung trat.
(Fritz Schlinther, Köln-Mülheim, den 8.4.1955.) —
Schließlich befindet sich in dem Archiv der Kreisgemeinschaft Gumbinnen ein handgeschriebenes Manuskript: „Die Flucht aus Jungort und Ostpreußen.“ Erzählt von Frau Pranzkat, nachgeschrieben von ihrer älteren Tochter Frau Ella Derichs, geb. Pranzkat, z. Z. Eschweiler, Am Hang 6.
Wir trafen auch den Gutsbesitzer Meier aus Nemmersdorf; er sagte nur immer, wir müssen doch nach Hause fahren; bald geht die Frühjahrsbestellung los, und wenn die Kinder kommen, müssen wir doch da sein. Sie sind auch, so weit wir wissen, als einzige mit ihrem Enkel nach Hause gefahren, haben dort in ihrem Stall gewohnt und sind beide auch da gestorben. Der Enkel hat in Nemmersdorf noch Schmied gelernt. —
Nach Frühjahr 1945 fingen wieder neue Vorbereitungen zur Flucht an. Diesmal war es ganz anders; mein Mann war da und bereitete alles vor. Der Wagen wurde überholt und eine Plane darübergespannt. Unser Bauer machte auch einen Wagen zurecht; denn, wenn es diesmal losging, betraf es alle, und der Treck wurde immer größer.
Da hatten wir Glück; denn zu der Zeit wurden alle verschleppt. Er war in allem gerecht, sagte aber einmal zu uns, der Deutsche müßte noch viel mehr leiden, um das abzubüßen, was wir den Juden angetan hätten. Als sie mit dem Vieh abrückten, mußte mein Mann noch bis Osterode das Vieh treiben helfen. Unterwegs nahm ihn die GPU mit, er sollte nach Rußland, sah ihnen dann aber doch zu alt und schlecht aus, und so ließen sie ihn wieder los. Mein Mann war da 49 Jahre, aber man hielt ihn gut für 60 Jahre. Er war in kurzer Zeit schneeweiß und alt geworden. Bei dem Juden hatten wir es noch einigermaßen gehabt, aber nun begann eine schlechte Zeit. Gleich am andern Tag kam polnisches Militär, sperrte uns Hausbewohner ab und plünderte alles aus, nahmen auch jegliche Eßwaren mit. Jeden Tag kamen neue Plünderer, sogar die Asche im Herd wurde untersucht. Polenjungen von 14 Jahren hatten auch Revolver und amüsierten sich richtig, hielten uns die Waffe vors Gesicht und zwangen uns, Schuhe usw. auszuziehen. Später kam dann ein Erntekommando, nahm alle Personen auf, untersuchte die Mädchen auf Geschlechtskrankheiten. Die Mädchen sollten arbeiten und auch Essen bekommen. Man sagte uns, es braucht sich keiner mehr zu verstecken. Wir glaubten es auch. Alles ging dann mal richtig schlafen.
Lehrer Schlenther fügt dem Bericht handschriftlich hinzu: Die ganze Familie Pranzkat fand sich in Eschweiler zusammen, wo die sehr tüchtigen Kinder die Verluste bald aufholten. Pranzkat sen. hat von diesem Lichtblick allerdings nur noch wenig erleben dürfen. Einige Monate nach der Ankunft in Eschweiler ist er gestorben. Er hat sich von den Strapazen, die hinter ihm lagen, nicht mehr erholen können. Dabei war er schon vom Ersten Weltkrieg her schwer kriegsbeschädigt. Die Schreiberin hat mir mitgeteilt, daß Lene Busching, Gerda Plath und Frieda Giebler — letztere verheiratet — nach Rußland verschleppt wurden. Pinnau ist als Kriegsgefangener in Frankreich geblieben und hat seine Familie dorthin geholt. Familie Passerat hat eine Siedlung in der Ostzone. Karschucks sind tot, und die alten Ragowskys sollen von den Russen erschlagen worden sein. Die andern sind indessen alle im Westen gelandet. Schlenther.