Jungort


Übersicht – Quelle: Gumbinnen von Dr. Grenz

Jungort

(Kiaulkehmen) mit Ganderkehmen (früher Ortsteil) Heinrichsdorf (Gut) und Gerschwillauken (früherer Ortsteil):

Kirchspiel Nemmersdorf. Amtsbezirk und Standesamtsbezirk Nemmersdorf. E.: 177. GH.: 890— RM. G.: 530 ha. —
Einklassige Volksschule, vor 1914 erbaut, 1925: Lehrer Gustav Bouchain, 1937: Lehrer Fritz Schlenther. —
Bürgermeister Bauer Friedrich Szisnat. —
Post: Jungort über Gumbinnen (15 km). —
Landwirte: Ernst Brommont, Gustav Busching, Willi Karschuk, Hans Kuntze (Diplom-Landwirt), Hermann Pinnau, August Plath, Fritz Pranzkat, Gustav Pritzkuleit, Walter Szisnat, Willy Szisnat. —
Bauern: Elise Aschmoneit, August Busching, Matthias Karschuk, Gustav Passerat, Karl Ragowsky, Emil Riehl, Friedrich Szisnat. —
Ferner: keine Handwerker.
Zusteller August Schey, Hirt Fritz Schweingruber, Wirtschafts-Gehilfe Franz Zirpins. —
Landwirtschaftliche Berufe: Deputanten: Emil Augustin, Ferdinand Brandt, Wilhelm Kühn, Johann Wespatat. —
Landarbeiter: Franz Giebler, Heinrich Giebler, Eugen Heldt, Albert Kaliweit, Friedrich Naujoks, Ernst Pogodda, Fritz Prußeit, Franz Rähse, Gustav Schlösser. —
Kutscher: Richard Gublinski. —
Melker: Franz Kislat, Otto Koch, Fritz Kochanowski. —
Sozialstatus: 2 Rentner, 1 Altsitzer, 1 Altsitzerin, 2 Rentenempfängerinnen. —
1925: 1 Lehrer, 6 Besitzer. —
Im Ortsteil Ganderkehmen:
Gemeindevorsteher Franz Radtke, 5 Besitzer und 2 Altsitzer. —
Im Ortsteil Gut Heinrichsdorf:
Besitzer des Gutes: Gutsbesitzer W. Kuntze, wohnhaft in Prußischken. 1 Rentnerin, 1 Gutsverwalter (Fritz Gettkant), 1 Wirtin Emma Kairies, 1 Küchenmädchen, 1 Vorarbeiter, 7 Deputanten, 1 Schweizergehilfin (Frieda Koch).
Im Ortsteil Gerschwillauken:

Gemeindevorsteher Gustav Perrey. —
2 Besitzer, 1 Rentner, 1 Melker, 1 Wirtin, 1 Wirtschaftslehrling. —


Kiaulkehmen ist der Geburtsort der ostpreußischen Heimatdichterin Frieda Jung

Im Archiv der Kreisgemeinschaft Gumbinnen findet sich folgender Bericht:
„Frieda Jung, eine ostpreußische Dichterin. Frieda Jung, die ostpreußische Dichterin der Stille, ist am 4. Juni 1865 in Kiaulkehmen im Kreise Gumbinnen als Tochter eines Lehrers geboren worden. Durch den frühen Tod ihrer Eltern wurde das junge Mädchen früh aus einer glücklichen Kindheit gerissen und hat, wie sie es selber in einem der ostpreußischen Bauerndichterin Johanna Am-brosius gewidmeten Gedichte sagte: „ .. . mit dem Schmerz zu Tisch gesessen.“ Eine bittere Enttäuschung für die kaum Zwanzigjährige war auch ihre unglückliche Ehe, die kaum ein Jahr währte, und der rasche Tod ihres neugeborenen Kindes. Die durch Krankheit und bitteres seelisdies Leid gezeichnete junge Frau fand ihren Trost in schlichtem Gottvertrauen. Immer wieder versuchte sie eine ihrer Art entsprechende Arbeit zu finden. Sie schrieb darüber klagend: „Zu einem Amt war ich körperlich zu schwach, zu dem anderen zu unwissend. Endlich fand ich Aufnahme im Kindergarten zu Lyck, und seitdem habe ich im Laufe von 12 Jahren Stellungen (als Erzieherin und Gesellschafterin) in vier verschiedenen Häusern innegehabt. Es muß wohl schon so sein, daß der liebe Gott auch unter den Menschen seine Wandervögel hat, und wohl denen, die mit dieser Bestimmung ihres Lebens auch den Wandertrieb der kleinen Gefiederten verbinden. Ich besitze ihn nicht. Mein Herz klammert sich mit zitterndem Eigensinn an jedes Haus, in dem ich einen Weihnachtsbaum brennen sah und ein Kinderhändchen loszulassen, das sich einmal warm und zärtlich in meine Hand legte, verursacht mir beinahe einen körperlichen Schmerz.“ —
Die innere Verbundenheit mit den Menschen ihrer Heimat bestimmte ihre Dichtkunst. Gleich ihre ersten Gedichte, die 1900 herauskamen, zeichneten sich durch eine tiefe Wärme der Empfindung aus. Gedanken und Lieder voller Schlichtheit und Wahrheit erfüllen das Wesen und Leben von Frieda Jung, die dazu bekannte: „Ein paar Töne davon weht der Wind in die Welt hinaus. Und nun geschieht das Unfaßbare, hin und wieder bleibt einer stehen und lauscht. Es mag ihm wohl zumute sein, als hörte er an einem schönen, klaren Herbstabend ganz fern vom Dorf her das Spiel einer Harmonika. Kunstlos, leise, sehnsüchtig.“ — Frieda Jung sah und schilderte mit Herzensgüte, tiefem menschlichen Verstehen und recht oft mit einem feinen Humor die Dinge ihrer Welt. Die in Insterburg lebende Dichterin war im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts durch ihre Lesungen und Gedichtbände in Ostpreußen so bekannt geworden, daß sie im Sommer 1912 im Dorfe Buddern, Kr. Angerburg, ein kleines eigenes Heim beziehen konnte, das sie sich aus den Erträgen ihrer Arbeit geschaffen hatte. Aber wieder verschonte Frieda Jung das Schicksal nicht und zwang sie mit ihren masurischen Landsleuten 1914 zur Flucht vor den Russenarmeen. Dieses Ereignis scheint die empfindsame Frau sehr hart und tief getroffen zu haben. Sie wurde nun zur Künderin Ostpreußens, zur Sängerin ostpreußischer Landschaftsschönhei-ten und Heimatliebe. An ihrem 60. Geburtstage 1925 erfuhr Frieda Jung im Rathaussaal zu Insterburg von dieser Stadt und der ganzen Provinz Ostpreußen würdige Ehrungen. Aber bald stellten sich durch Krankheit bittere Sorgen ein, so daß der Goethe-Bund eine Sammlung für sie einleiten mußte. Frieda Jung mußte sich einer Operation unterziehen, die ihr beste Genesungsaussichten eröffnete. Da versagte nach einer schweren Grippe ihr Herz, und am 14. Dezember 1929 schloß sie die Augen für immer. Auf ihrem Grab in Insterburg stand ein schlichter Stein, der außer ihrem Namen ein von Professor Hermann Brachen geschaffenes Bronzerelief mit dem Antlitz der Dichterin trug. —
Auf die ersten, 1900 erschienen „Gedichte“ von Frieda Jung folgte 1906 ein Sammelbändchen, dessen Titel man nicht unter den Gesichtspunkten gegenwärtiger Auffassungen betrachten darf. Frieda Jung nannte ihn „Maienregen — Gottessegen“. Dieses Bändchen fehlte vor 1914 fast in keinem ostpreußischen Bürgerhaushalt. Es folgte der weitere Band „Freud und Leid“, dann 1908 „Neue Gedichte“. „In der Morgensonne“ war der Titel des ersten Bandes der entzückenden Kindheitserinnerungen von Frieda Jung, der 1910 erschien. Im Ersten Weltkriege hat sie mit Lesungen gerade aus diesem Buch in mehr als 60 mitteldeutschen Städten vielen Tausenden von Zuhörern ein lebensnahes Bild vom ostpreußischen Wesen und von den Menschen an der Bernsteinküste und an den Masurischen Seen vermittelt. Der Dürer-Bund brachte in den Kriegsjahren drei Bändchen von Frieda Jungs Schriften heraus, von denen die Gedichte „Aus Ostpreußens Leidenstagen“ in ganz Deutschland von dem Opfer kündete, welches die östlichste Provinz des Reiches hatte darbringen müssen. Ihre letzte Sammlung, die unter dem Titel „Gestern und heute“ ein Jahr vor ihrem Tode erschien, ist noch oft im Ostmarken-Rundfunk und im Sender Königsberg und Heilsberg sowie in der ostpreußischen Presse gewürdigt worden.

Sehr verbreitet waren in Frieda Jungs Heimat auch ihre Kinderlieder. Lassen wir noch die folgenden Verse für Frieda Jung und ihr Werk sprechen:

„Herr, gib uns helle Augen, die Schönheit der Welt zu seh’n,
Herr, gib uns feine Ohren, Dein Rufen zu versteh’n,
Und weiche, linde Hände für unsrer Brüder Leid
Und    klingende    Glockenworte    für    uns’re wirre Zeit!
Herr,    gib    uns    rasche    Füße    zu    uns’rer Arbeitsstatt
Und eine stille Seele, die Deinen Frieden hat!“
„Was kam, was kommt — ich weiß nur eins:
Hier ist mein Herz, und das ist deins,
O Heimat, bis zum Tode.“

Das war Ostpreußens Frieda Jung, eine kleine, zarte Frau, der sich einst viele Herzen in Liebe und Verehrung zuneigten. Im Jahre 1965 erschien im Verlage Gräfe & Unzer, München, eine von M. A. Borrmann ausgewählte Anthologie aus den Werken der Dichterin:  „Auch ich hab‘ mit dem Schmerz zu Tisch gesessen .. .“) —

„Das Ostpreußenblatt“ vom 15. März 1952 bringt auf S. 9 ein Foto des Grabes von Frieda Jung und auf S. 10 einen Aufsatz von Wilhelm Matull „Zugang zu den Herzen“, Frieda Jung, eine Sängerin des Ostpreußenlandes. Hier werden einige zusätzliche Angaben über ihr Leben gemacht. Am 4. Juni 1925 richtete die Stadt Insterburg die Feier ihres 60. Geburtstages aus. Oberbürgermeister Wedel hatte im Rathaussaal zu einem weihevollen Festakt eingeladen. Auf die Reden, die gehalten wurden, antwortete sie: „Ja, ich habe ein paar Lieder gesungen, aber lange nicht so schön, wie die kleine Lerche da draußen in der blauen Luft! Und ich liebe meine Heimat und mein deutsches Land mit der Selbstverständlichkeit und Leidenschaft jedes Ostpreußen. Aber ich habe diese Liebe lange nicht so beweisen können, wie jeder unserer jungen Söhne, der um sie sein Leben gelassen. Und im übrigen: eine schlichte Frau, die mit ihren grauen Haaren noch immer die Menschen für gut hält, die hin und wieder gern ein wenig plattdeutsch spricht und fest und kindesfroh an die Gottesschrift in Bibel, Wald und Sternen glaubt, — das ist alles!“. — Nach ihrem Tode wurde eine Sammlung veranstaltet, durch die die Herstellung ihres Bildnisses, einen Bronzekopf von der Seite gesehen (Halbrelief), durch Professor Hermann Brachen, finanziert wurde. An einem eisigkalten Wintertag des Jahres 1930 fand dann die Enthüllung der Büste auf der von der Stadt Insterburg geschenkten letzten Ruhestätte Frieda Jungs statt.“ —

Ferner befindet sich eine Planskizze des Ortes im Archiv der Kreisgemeinschaft, in die Lehrer F. Schlenther die 15 Anwesen des Ortes eingetragen hat:

1. Schule, 2. Pranzkat, 3. Karschuck, 4. Paszerat, 4a. Paszerat Insthaus, 5. Ragowski, 6. Szisnat, 7. Aschmoneit, 8. Kuntze, 9. Riehl, 10. Busching, 10a. Busching Insthaus. 11. Pinnau, 12. Plath, 13. Brommond, 14. Janert, 15. Pritzkuleit. —
Ferner befindet sich ein mit Schreibmaschine geschriebener „Bericht über das Dorf Jungort (Kiaulkehmen)“ von Lehrer Fritz Schlenther im Archiv der Kreisgemeinschaft Gumbinnen.
Leider ist er in einem Erzählerstil abgefaßt, der es schwer macht, konkrete Angaben zu entnehmen. Danach haben die Grundstücke Janert und Pritzkuleit ursprünglich die selbständige Gemeinde Gerschwillauken gebildet, die 1936 nach Jungort eingemeindet wurde.
Bis 1920 bildeten die zwei Bauernhöfe Emil Riehl mit rund 100 Morgen und August Busching mit rund 200 Morgen (links hart am Bartschgraben, wenn man von Nemmersdorf aus kommt, Bauernhof Riehl lag dagegen auf der rechten Seite) die Gemeinde Ganderkehmen, die ebenfalls zu Jungort eingemeindet wurde. —

Zur Schule gehörten 11 Morgen Dienstland, das Schulgebäude war ursprünglich das Anwesen des Gemeindehirten. Die Kinderzahl war stets gering. Im Winter 1932/33 waren es für einige Wochen nur 10. Sie kamen nur aus Jungort. Nach der Eingemeindung von Gerschwillauken stieg die Zahl auf 30—40. Damit war die Gefahr gebannt, daß man die Schule auflösen könnte. Äußerlich machte das Gehöft gar nicht den Eindruck einer Schule. Es sah so aus wie die andern Bauerngehöfte: 3 Gebäude, Wohnhaus, Scheune und Stall, umschlossen den Hof. Die zwischen den Gebäuden offenen Stellen waren durch einen Zaun abgeschlossen. Außerdem bestand ein großer Garten wie bei allen andern Gehöften auch. Die Scheune war schon ziemlich alt Die Bretterwände erschienen vom Wetter grau verwittert. Der Stall dagegen war noch ziemlich neu und erst in den zwanziger Jahren gebaut, wie das Wohnhaus aus roten Ziegeln, unverputzt, aber sauber verfugt. An dem Stall befand sich noch ein zugehörender Teil aus Holz mit einem Raum für Brennmaterial und eine Schirrkammer. Der letzte Raum ist sogar sehr wichtig; denn dort war der Lehrer sein eigener Handwerker. Stall und Wohnhaus standen mit dem Nordgiebel direkt an der Straße, der Stall eigentlich schon auf der Straße, wodurch die Wegführung stark eingeengt wurde. Das Wohnhaus oder auch Schulhaus hatte an der Hofseite eine Tür zur Wohnung eine zum Klassenraum, der aber vom Hof nicht sichtbar war. Die Grundmauern waren niedrig, das Dach weit überstehend, die Fenster dementsprechend klein. Der Ur- oder Erstbau ist es gerade nicht mehr; niemals aber hat man das Schulhaus abgebrochen oder von Grund auf neu gebaut. Wenn irgendetwas daran baufällig war, dann wurde entweder der Unterbau erneuert, vielleicht auch nur Teile davon, oder es wurden Teile des Daches durchrepariert, daher hohe Schwellen, uralte Türen, kleine Fenster, niedrige Zimmer und eine für heutige Verhältnisse übermäßig starke Dachkonstruktion. Alles alt. Die dicken Deckenbalken sind aber indessen durch untergezogene Gipsdecken unsichtbar geworden. Viele Jahrzehnte bestand das ganze Haus nur aus ingesamt 4 Räumen: Klassenraum, Küche und zwei Zimmer. Im Anfang dieses Jahrhunderts ist man dann aber doch zu der Einsicht gekommen, daß es so nicht weitergehen kann. So wurde denn die Giebelseite nach Süden in den Garten hinein zum Klassenraum ausgebaut. Die neue Klasse war für 30 Schüler gerade noch ausreichend. Das war aber schon zu klein; für einen zeitgemäßen Klassenschrank fehlte es bereits an Platz; mehr Schüler durften nicht kommen. Eine Erweiterung der Klasse, verbunden mit der Modernisierung der Lehrerwohnung war in der Zeichnung auch fertig, als der Krieg begann. Die Klasse war aber hell und auch hoch genug. Die warme Sommersonne wurde durch einen riesigen Apfelbaum vor dem Fenster abgeschirmt. Pech! Wegen der Hitzeferien.
Ein Sorgenkind war die Wasserversorgung. Die Schule lag hoch. Mehrere Brunnenschächte waren im Laufe der 200 Jahre ausgehoben worden. Erfolg: Sickerwasser, sehr knapp im Sommer, dazu wurde es dann auch noch schwarz und stank wie Jauche. In trockenen Zeiten mußte das notwendige Wasser von den Bauern in Gefäßen angeliefert werden. Das kostete Geld und war während der Ernte eindeutig unbequem. Wegen der Schule wollte niemand die Erntearbeit unterbrechen. So kann man ohne Übertreibung behaupten: 200 Jahre war Krieg wegen Wasser. Die Schulchronik strotzte von Klagen wegen des Wassermangels. Angeblich sollte in der Nähe des ganzen Schulgehöftes keine Wasserader sein.
1937 (nach Verwaltungsbericht Gumbinnen wurde 1931 ein neuer Brunnen gebohrt) wurde dann aber doch endlich ein Bohrbrunnen in Angriff genommen. Ein Wünschelrutengänger vermutete auf dem Hof, 3 m parallel zum Schulhaus eine Wasserader, und es war richtig. In 24 m Tiefe stieß man auf eine 5 m starke Ader. Sie erwies sich als unerschöpflich und lieferte ganz vorzügliches Wasser. Jetzt trat gegenüber früher der umgekehrte Fall ein. Der Bauer Aschmoneit holte sich zeitweise jeden Tag eine Fuhre Wasser vom Schulhof, und wenn Pranskat gutes Wasser haben wollte, wußte er auch, wo es zu finden war. Gerade sein Brunnen hat manchmal in der Not aushelfen müssen. Jetzt durfte er es sich zurückholen. —

Noch einmal will ich auf das Schulhaus zurückkommen. Der alte Klassenraum wurde nach dem Anbau ein Zimmer der Dienstwohnung. 35 qm für eine Stube ist wohl etwas reichlich. Die ganze Wohnung hatte damit eine Größe von rund 130 qm; oben waren zwei Fremdenzimmer. Somit bestand die Wohnung aus Küche, Speisekammer und 5 Zimmern. Die beiden Fremdenzimmer waren, namentlich im Sommer, oft belegt.
In 20 Minuten Fußweg hatte man von der Schule aus Kollatischken erreicht. Dort gab es in einer Schleife der Angerapp eine breitere Stelle, die als Pferdeschwemme für ganz Jungort in Anspruch genommen wurde, aber auch als Freibad. Der Besitzer Jenett aus Kollatischken war davon nicht erbaut, aber mit einem Verbot kam er nicht durch, auch eine Verbotstafel blieb ohne Wirkung. So mußte sich J. schließlich mit den Verhältnissen abfinden. —
Bis 1933 besuchte den Ort regelmäßig eine Zigeunersippe Morgenstern, die angeblich in Kummetschen bei Goldap einen festen Wohnsitz hatte. Zwei- bis dreimal kam sie im Jahre durch Jungort und schlug bei Aschmoneit ein Lager im Walde auf. Die 15 Personen der Sippe verteilten sich auf 2 Planwagen; es waren alle Lebensalter vertreten vom Säugling bis zum Greisenalter. Sie blieben auf dem Lagerplatz stets für mehrere Tage. Die Sippe Morgenstern hatte ein Privileg auf diesen Campingplatz, gegen das keine andere Sippe verstoßen durfte und auch nie verstoßen hat. Es war immer die gleiche Mannschaft, die in Jungort auftauchte. Sie gingen durch das Dorf, bei der Schule anfangend, betteln und übten Wahrsagen und Kartenlesen. —

Der Bürgermeister des Ortes erhielt anstelle von Bargeldentschädigung für seine Bürgermeistertätigkeit das Jagdrecht in der Jungorter Flur zugesprochen (ausgenommen Ortsteil Heinrichsdorf). An Jagdwild gab es allerdings nur Hasen und Rehe. Schwarzwild war nicht vorhanden. Dazu war für den Abschuß an Rehen nur eine ganz geringe Zahl freigegeben, ich glaube, es war im Sommer ein einziger Bock. —
In der Flur des Ortsteils Ganderkehmen, Feldflur Aschmoneit, befand sich ein nicht großes Moor. Das überschüssige Wasser hatte einen Abfluß zum Bartschgraben, der sich durch Wiesen in einer Talsohle zur Angerapp schlängelte. Im Hochsommer war er trocken. In der Regenzeit aber überflutete er die Wiesen, die dadurch versumpften und an Wert verloren; dafür waren da eine Unmenge von Fröschen, die ihrerseits zahlreiche Störche anlockten, und diese hatten dem Dorf den Namen gegeben. Ganderkehmen, eine litauische Bezeichnung, heißt zu deutsch Storchendorf.

Um 1935 kam es zur Bildung einer Wassergenossenschaft, die die Bartsch kanalisierte. Viel Arbeit machte der Straßendurchbruch, weil dort stark vertieft werden mußte. Ein Arbeiter hat dabei sein Leben eingebüßt. —

Erwähnt sei noch, daß jeder Bauer ein Stück eigenen Wald, die meisten auch noch ein Torfmoor hatten. Pranzkat besaß dicht am Jungorter Friedhof eine — allerdings nicht sehr ergiebige — Kiesgrube. —

Die Schulchronik, die der Vater von Frieda Jung, Lehrer Jung, um 1860 begonnen hatte, ist verloren. Es stand in ihr, daß die Schule 1734 gegründet worden sei.

Das älteste Bauerngeschlecht dürfte wohl Aschmoneit sein (litauisch).

Die Pest 1709/10 hat auch in Kiaulkehmen grassiert und einige Höfe freigemacht. Es kamen neue Bauern hinein, von denen sich am längsten Fürstenberg gehalten hat, der Schwiegervater von Karschuck. Frau Karschuck ist von Frieda Jung als Malchen Berg in die Literatur eingegangen. Die Höfe lagen ursprünglich eng zusammen um den Dorfteich herum, also ein geschlossenes Dorf. Aus den zahlreichen umliegenden Wäldern kam viel Wild in die Felder, besonders Wildschweine verwüsteten die tiefer gelegenen Fluren und wurden zur Landplage. Daher der Name Kiaulkehmen, auf deutsch Schweinedorf.

Nach der Separation in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bauten sich einige Bauern, deren Felder am weitesten ablagen, aus, z. B. Ragowski, Jung und Aschmoneit. Einige sind ausgestorben bzw. haben abgewirtschaftet. Ihre Höfe wurden willkommenes Kaufobjekt für die Tüchtigen, deren Höfe doch alle kaum größer als 40 Morgen waren. Das Insthaus von Paszerat ist der Rest eines solchen Bauernhofes. —

Der erste Lehrer im Ort hieß Vouilleme. Wenn Lehrer Friedrich Jung, der Vater der Heimatdichterin, krank wurde, vertrat Frieda ihn als Laienkraft im Unterricht. Das war damals noch möglich. Ihr bekanntestes Buch war „Morgensonne, Morgengold“, eine Jugenderinnerung. Von der hohen Küchenschwelle, dem Flieder vor dem Fenster bis zum Erlengebüsch am Vorflutgraben in der Wiese, das war bis 1945 alles noch da.

Die Umbenennung von Kiaulkehmen in Jungort erfolgte auf Antrag der Bewohner des Ortes und zwar ohne Widerspruch, der sonst bei allen Debatten regelmäßig in Erscheinung trat.

(Fritz Schlinther, Köln-Mülheim, den 8.4.1955.) —


Schließlich befindet sich in dem Archiv der Kreisgemeinschaft Gumbinnen ein handgeschriebenes Manuskript: „Die Flucht aus Jungort und Ostpreußen.“ Erzählt von Frau Pranzkat, nachgeschrieben von ihrer älteren Tochter Frau Ella Derichs, geb. Pranzkat, z. Z. Eschweiler, Am Hang 6.

Wir lassen den Text folgen:
„Es war am Freitag, d. 20. Okt. 1944, ein Tag vor unserer Flucht aus dem Heimatdorf Jungort. Eine Unruhe herrschte überall und der Lärm der Front kam immer näher. Meine Tochter (die jüngste Tochter, damals 13 Jahre alt) fuhr noch mit dem Fahrrad nach Nemmersdorf zum Einkaufen. In Nemmersdorf selbst waren die Straßen schon dicht voller Flüchtlingstrecks. Von der Ortsgruppe war uns gesagt worden, wir sollten am Sonnabend, dem 21. Oktober, mittags 12 Uhr, in Nemmersdorf sein, d. h. das ganze Dorf mit seinem Treck. Von dort sollte es unter Leitung der Partei weitergehen, wohin, wußten wir nicht. Mein Mann wurde noch Anfang Oktober zum Volkssturm eingezogen, und ich war mit der jüngsten Tochter allein auf dem Hof. Wir bereiteten alles vor, packten ein, und ich backte Brot auf Vorrat. Spät abends kam Fr. Karschuck zu uns, um zu hören, ob nun wirklich alles stehenbleiben sollte und wir fort mußten. Die alte Frau war schon so durcheinander, daß sie nicht mehr nach Hause fand und meine Tochter sie fortbringen mußte. In der Nacht ging ich noch zu unserem Bürgermeister F. Szisnat, um einen Mann zu bekommen, der mir den Wagen fuhr. Bei unseren Pferden war es für eine Frau kaum möglich, allein zu fahren. Bei ihm selbst herrschte ebenfalls Hochbetrieb; es wurden noch Schwein und Geflügel geschlachtet. Herr Szisnat verwies mich zu unserem Nachbarn Riehl, der noch 3 Mann auf dem Hof hatte. Wo ich im Dorf vorbeikam, da standen alle Wagen abfahrbereit und überall war Betriebsamkeit. Ich lud dann auch mit der Tochter alles auf den Wagen, sogar die Nähmaschine hatten wir drauf. Auf unserem Hof hatten sich Flüchtlinge eingefunden, die schon von weiter her kamen; es waren Litauer. Die ganze Nacht über wurde geschossen, und singend zogen die Kugeln über unseren Hof. Der Beschuß sollte vom Galgenberg in Nemmersdorf herkommen. Unsere Flugzeuge flogen pausenlos zur Front, kamen ganz niedrig im Tiefflug heran; ihr Flugplatz lag in Jürgenfelde (Jurgaitschen). Als es morgens hell wurde, war unsere Dorfstraße voll von Flüchtlingen und Wehrmachtskolonnen. Weit konnte man nicht sehen; denn es herrschte starker Nebel. Es war Samstag, den 21. Oktober 1944. Unser Nachbar Riehl fuhr jetzt ab und schickte uns seinen Franzosen zum Fahren. Wir ließen dann das Vieh aus dem Stall und machten unsern Hund Mossel los, der mit einem Satz davonjagte. Der Franzose spannte die Pferde an, und unsere letzte Fuhre fuhr vom Hof. Meine 13jährige Tochter fuhr mit dem Fahrrad. Die Pferde kamen kaum vorwärts und mußten dauernd mit den Hinterbeinen stemmen. Wir fuhren in Richtung Heinrichsdorf. Karschucks waren noch beim Aufladen, Passerats waren schon fort, doch Gepäck usw. stand noch auf der Treppe und auf dem Hof. Bis hinter Passerats waren unsere Pferde schon ganz naß von der Anstrengung. Oft faßte ein Soldat an die Zügel und führte ein Stück. Endlich stellte ein älterer Soldat fest, daß verkehrt angespannt war und wir wechselten die Pferde. Es ging nun zwar besser, aber die größte Kraft war dahin. Auf der Dorfstraße lag schon allerhand an Hausrat; viele der Flüchtlinge hatten überladen und warfen nach und nach etwas ab. Als wir das Bürgermeistergehöft erreichten, fuhr er gerade vom Hof; in der Kurve flog schon eine Schüssel mit geschnittenem Fett vom Wagen. Szisnats fuhren mit 2 Wagen. Wir schlossen uns an, und so ging es dann zu zweien aus dem Dorf weiter. Die andern sind alle für sich allein gefahren. Der Schweizer von Gerschwillauken mußte das Vieh im Dorf sammeln und forttreiben. Unsere Kühe gingen nicht mit, da sie an die Herde nicht gewöhnt waren. An unserm ersten Fluchttag sind die Russen bis Nemmersdorf durchgestoßen. Panzer sollen sogar bis an unsere Bartschgrabenbrücke gekommen sein.
Es ist viel Grausames in Nemmersdorf passiert, war doch der größte Teil der Dorfbewohner noch nicht geflüchtet. Von der Partei war es verboten, ohne Befehl auf die Flucht zu gehen. Wir fuhren an diesem Tag bis hinter Insterburg, immer auf Feldwegen, weil die Hauptstraßen verstopft waren. Durch den Nebel hatte sich Szisnat auch noch verfahren; erst gegen Mittag kam die Sonne durch. Wir fuhren durch Kanthausen (Judtschen) und durch den Brödlauker Wald in Richtung Insterburg. Vor Insterburg trafen wir noch Passerats; sie hatten nichts auf dem Wagen, auch nichts zu essen und wollten noch einmal zurückfahren. Als wir durch Insterburg fuhren, war es schon dunkel, ständig herrschte Fliegeralarm. Wir stießen auf die ersten Parteigenossen; sie schlugen auf unsere Pferde ein und wollten uns nicht durchlassen. Die Zivilisten sollten zurückbleiben, aber wir kämpften uns durch, jeder schimpfte und suchte sich sein Recht. Kurz hinter Insterburg übernachteten wir in einer Ziegelei draußen auf dem Hof. Meine Tochter war den ganzen Tag mit dem Fahrrad gefahren, teils auch zu Fuß gegangen. Sie war sehr müde und legte sich auf den Wagen zwischen die Kisten; ich deckte sie mit der Pelzdecke zu. Nachts war es sehr kalt. . . die ersten Nachtfröste. Szisnat und ich blieben auf und gaben auf Wagen und Pferde acht. Mit ein paar Schritten hatten wir unsern ganzen Besitz umkreist. Sollte das das letzte sein von unserem ganzen Lebenswerk? Ab und zu nahmen wir einen Schluck aus der Schnapsflasche, um uns zu erwärmen; wir hatten schon die zweite Nacht nicht geschlafen. Morgens hatte meine Tochter Rauhreif im Haar, hatte aber gut geschlafen.
Der zweite Fluchttag begann; es war Sonntag, am 22. Oktober. Große Aufregung herrschte bei uns allen; die Straßen waren gesperrt; wir wußten nicht, in welche Richtung wir weiterfahren sollten. Viele Wagen kamen zurück. Doch endlich konnten wir uns auch auf die Straße in eine Lücke schieben; es ging nur langsam vorwärts, aber ohne Aufenthalt und bis zum Abend. Die Pferde bekamen kein Futter, und wir kamen nicht vom Wagen herunter. Austreten brauchten wir nicht; der ganze Mensch hatte sich verändert; wir waren gar nicht mehr wir selbst. Bis zum Abend waren wir nur etwa 15 km gefahren. Mit unsern Pferden war es zudem recht anstrengend; sie wollten nur immer laufen. Vom ständigen Zurückhalten hatten sie schon Wunden am Maul, und dauernd stießen wir mit der Deichsel unserm Vordermann gegen seinen Wagen; das gab wenig begeisterte Blicke. Unser Fahrer, der Franzose Paul, hatte es nicht leicht. An dieser Stelle will ich gleich schreiben, wie sehr er sich für uns eingesetzt hat. Er sorgte gut für uns und die Pferde, war immer freundlich und bescheiden. Für diese Nacht hatten wir ein gutes Quartier, durften in der Küche auf dem Fußboden schlafen und bekamen heißen Kaffee. Zum erstenmal wurde uns wieder richtig warm. Das Dorf hieß Schwägerau. In dieser Nacht fielen Bomben  auf Insterburg;  man konnte es hören, und der Himmel war feuerrot. Am andern Morgen, den 23.10., ging es dann weiter in Richtung Nordenburg. Als wir bis Mittag gefahren waren, mußten wir von der Straße herunter. Alles sollte in Deckung gehen, russische Flugzeuge beschossen die Trecks. Wir fuhren auf einen Bauernhof und machten dort Rast. Paul fütterte die Pferde, und wir machten uns was zu essen. Die Flugzeuge kamen auch tatsächlich und wurden von der Flak beschossen. Als es ruhiger wurde, fuhren wir wieder weiter. Die junge Frau Szisnat und meine Tochter fuhren von nun ab jeden Tag nach der Mittagszeit mit dem Fahrrad voraus und suchten Quartier für die Nacht, damit wir nicht im Freien bleiben mußten. Wir hatten auch immer Glück. Ab und zu trafen wir Bekannte; keiner wußte richtig, wo es hinging; jeder erzählte etwas anderes; es hieß, wir sollten nur bis Gerdauen fahren und dort Näheres abwarten. Wir fuhren bis kurz hinter Alienburg; dort fanden wir in einer Schule Unterkunft. Es wurde Stroh in den Schulraum gebracht, und wir konnten es uns bequem machen. Wir blieben hier drei Tage. Die Lehrerfamilie war sehr nett; wir durften kochen und konnten uns ausruhen. Wir waren auch alle fertig und hatten etwas Grippe bekommen. Die Pferde mußten neue Eisen haben. Milch für die Kinder verkaufte ein Gut, aber Flüchtlinge und Wagen ließ er nicht auf seinen Hof. Es war ein alter Junggeselle, der mit seiner Hausdame wirtschaftete. Danach fuhren wir ausgeruht weiter. Unterwegs lebten wir von den Lebensmitteln, die wir von Hause mitgenommen hatten. Manchmal kauften wir uns auch etwas auf Karten. Tagsüber gab es nur Brot und abends Kaffee oder Milchsuppe. Richtiges Mittagessen bekamen wir erst am letzten Tag unserer Flucht; so lange war nichts organisiert. Unser weiterer Fluchtweg ging über Pr. Friedland, Schönbruch, Schippenbeil, Bischofstein, Rößel, Seeburg, Rotfließ, Wartenburg, Lengainen, Allenstein, Hirschberg und Groben. Unsere Endstation hieß Reichenau. Die andern Fluchttage verliefen fast immer gleich: Den ganzen Tag fahren und Quartier suchen für den Abend. Oft mußten weite Umwege gemacht werden, weil die meisten Hauptstraßen gesperrt waren. Die Quartiere waren auch verschieden, mal sehr gut, mal weniger gut. Das Futter für die Pferde zu besorgen, war oft schwierig;  die Bauern wollten nichts geben, weil sie Angst hatten, daß sie selbst nicht durch den Winter kommen würden. Es wußte ja keiner, wie es noch enden würde. Hinter Allenstein erfuhren wir dann, daß unser Kreis Gumbinnen nach dem Kreis Osterode umgesiedelt würde. Je näher wir dem Ziel kamen, desto mehr Bekannte trafen wir aus den Nachbardörfern unserer Heimat. Eine große Freude wurde uns noch zuteil, als uns jemand sagte: „Wir haben Ihren Mann getroffen; der fährt auch einen Wagen mit einer Frau und 7 Kindern und einer alten Oma!“ Jetzt waren wir wenigstens beruhigt, daß unser Vater noch lebte und nicht im Einsatz war. Wir wunderten uns nur, wie das kam, daß er einen Wagen fuhr. Das Wetter war einigermaßen gut für die Jahreszeit, und wir blieben auch bis auf Erkältungen gesund. Wir fuhren jeden Tag durch eine wunderschöne Gegend — manchen Tag nur durch Wald und an Seen vorbei. Aber man konnte sich nicht richtig daran erfreuen; die Umstände waren zu traurig. Im allgemeinen wurde der Treck von Tag zu Tag trauriger und langsamer. Die Pferde machten schon schlapp, und überall weinten die Kinder; es dauerte zu lange, ehe man am Ziel war. Am letzten Tag fing es auch noch an zu regnen — langsam und unaufhörlich. Auf Regenwetter waren wir gar nicht eingestellt und so wurde unsere letzte Habe auch noch durch das Wetter verdorben.
Endlich, am 2.11.1944, abends um 7 Uhr, im Regen und im Dunkeln trafen wir in Reichenau ein. Im kalten Gasthaus mußten wir übernachten; der Wagen blieb draußen im Regen. Ich war sehr unglücklich, daß nun alles so verdarb. Am andern Tag sollten wir dann unser Quartier beziehen; es war für jeden schon vorher gemacht worden. Unser Quartier war besetzt, Nachbar Riehl hatte es belegt, und wir wußten nicht, wohin. Ein kinderreicher Bauer, der niemanden aufzunehmen brauchte, nahm uns auf, weil wir nur 3 Personen waren. Jetzt waren wir mit 15 Personen auf dem Hof. Wir hörten an diesem Tag auch wieder von meinem Mann; er wäre auch durch Reichenau gekommen und hätte im Nachbardorf übernachtet. Meine Tochter mußte gleich mit dem Fahrrad hinfahren und ihn suchen; sie fand ihn auch, und unsere Freude war groß. Mein Mann fuhr die Frau noch bis zu ihrem Bestimmungsort Marwalde und kam dann zu uns. Er war sehr mager geworden, hatte sich viel Sorgen um uns gemacht; er dachte, wir wären noch in Jungort geblieben, weil er wußte, daß ich mit den Pferden allein nicht fertig wurde. Bei unserm Bauer Karkuth fingen wir gleich wieder an mit Wirtschaften. Ich packte alles aus zum Trocknen; wir hatten einen kleinen Herd im Zimmer und kochten auch für uns allein. Draußen war keine Arbeit mehr. Allerdings beim Dreschen haben wir mitgeholfen, und dafür erhielten wir bei dem Bauern auch das Essen. Unsere Pferde hatten einen schönen Platz im Stall; es gab für sie Futterkarten, und darauf verkaufte uns der Bauer das nötige. Doch wurden beide Pferde schwer krank; sie hatten oft draußen stehen müssen, und die Strapazen waren zu groß gewesen. Unsern „Hans“ hatten wir schon ganz aufgegeben, aber beide kamen durch. Vater hatte dabei große Sorgen; wie sollten wir ohne Pferde weiterkommen oder wieder nach Jungort zurückgelangen? Viele Pferde anderer Trecks gingen zu dieser Zeit an Krankheiten und Überanstrengung zugrunde. Als wir uns etwas eingelebt hatten, gingen wir uns gegenseitig besuchen. Unser Dorf war fast vollständig da; es fehlten nur Passerats und Ragowskis. An Männern waren nur Szisnat, Riehl und mein Mann da. Szisnat war immer krank und lag viel zu Bett. Riehl und mein Mann mußten nochmals nach Jungort auf Dreschkommando. Die Drescher zogen von Gehöft zu Gehöft, um alles auszudreschen. Das Getreide wurde dann an die Flüchtlinge verkauft. In unserem Dorf waren überall unsere Soldaten. Es sah dort alles schon nach kurzer Zeit verkommen aus. Möbel und Hausrat lagen überall herum. Die Soldaten holten sich von überall das Beste zusammen. Auf unserm Hof war die Schreibstube, man hatte Licht und Telefon gelegt. Die Soldaten schlachteten Schweine und Gänse und lebten gut. Sie schickten auch viel nach Hause. Mein Mann schlief in der Schule, weil bei uns kein Platz war; er kam aber schon nach ein paar Tagen zurück. Szisnat hatte ihn zurückrufen lassen, weil viele Wege gemacht und für die Jungorter im Walde Holz eingeschlagen werden mußte. Er selbst konnte nichts mehr, da sich sein Leiden ständig verschlimmerte. Meine Tochter mußte auch wieder zur Schule gehen und zum Konfirmandenunterricht. Der Lehrer war sehr gegen die Flüchtlinge, hatte selbst einen Posten in der Partei und fand es unerhört, daß nur 2 aus unserem Dorf in der Partei waren. Nach dem Endsieg wollte er darauf? noch einmal zurückkommen; er hat aber? das Ende nicht mehr erlebt. Als der Russe? kam, schnitten er und seine Frau sich die? Pulsadern auf und fanden den Tod. Den ?Konfirmandenunterricht hielt Pfarrer Moritz aus Gumbinnen, der ganz besonders nett zu uns Vertriebenen war. Das Weihnachtsfest verlebten wir noch ganz gut bei unserm Bauern. Nach Neujahr hatten wir Flüchtlinge eine Versammlung, auf der uns gesagt wurde, wir sollten schon für Saatgetreide zum Frühjahr sorgen; es ginge bald nach Hause. Jeder bekomme auch ein paar Kühe; in Sodehnen stehe eine große Herde, die verteilt werden würde. Wir sind fast alle nochmals nach Hause gefahren. Meine Tochter fuhr mit Nachbarn mit und brachte noch verschiedenes mit. Ich selber fuhr auch noch einmal mit der jungen Frau Szisnat, holte noch 1 Zentner Weizen, die große Uhr und schlachtete ein paar Hühner. Das war noch im November 1944. In demselben Monat hatten wir auch den ersten Sterbefall aus unserem Dorf. August Busching starb; er war schon in den neunzigern. Busching sagte selbst immer von sich, der Tod fände ihn gar nicht; er wisse nicht, daß er noch lebe. A. Busching kam einmal von Kollatischken nach Jungort; da sah er den Tod mit der Sense kommen; er sprang schnell in einen Graben und legte sich lang. Der Tod nahm die Sense und mähte immer über den Graben hinweg und konnte ihn nicht treffen. Dann ging er fort und sagte: „August Busching unverwüstlich.“ —

Wir trafen auch den Gutsbesitzer Meier aus Nemmersdorf; er sagte nur immer, wir müssen doch nach Hause fahren; bald geht die Frühjahrsbestellung los, und wenn die Kinder kommen, müssen wir doch da sein. Sie sind auch, so weit wir wissen, als einzige mit ihrem Enkel nach Hause gefahren, haben dort in ihrem Stall gewohnt und sind beide auch da gestorben. Der Enkel hat in Nemmersdorf noch Schmied gelernt. —

Nach Frühjahr 1945 fingen wieder neue Vorbereitungen zur Flucht an. Diesmal war es ganz anders; mein Mann war da und bereitete alles vor. Der Wagen wurde überholt und eine Plane darübergespannt. Unser Bauer machte auch einen Wagen zurecht; denn, wenn es diesmal losging, betraf es alle, und der Treck wurde immer größer.
Am 18. Januar bekamen wir dann Bescheid, uns vorzubereiten. Alles war längst fertig; das Schießen kam auch immer näher.
Am 20.01.1945 abends um 10 Uhr durften wir abfahren. Es schneite und war auch sehr kalt, und wir mußten lange warten, bis wir auf die Hauptstraße konnten. Militär beherrschte das ganze Straßenbild; es war sehr glatt und ging nur Schritt für Schritt vorwärts. Bis zum andern Tag gegen Mittag hatten wir etwa 11 km zurückgelegt. Auf einem Bauernhof in Warneinen machten wir Rast. Auf dem Hof lag eine Baukolonne; die Offiziere meinten, wir sollten nur schnell weiterfahren, damit wir erst bis hinter Osterode kämen. Vereinzeltes Schießen war zu hören. Als wir gerade auf unsern Wagen aufstiegen, waren die ersten russischen Panzer da. Das war so schnell gegangen, daß wir alle wie gelähmt waren. Es brannte auch gleich auf dem Nachbargrundstück. Die Offiziere wollten schnell fort, aber das Auto sprang nicht an. Alles rannte weg. Mein Mann, Tochter, Fr. Riehl mit Mädchen und ich liefen über einen kleinen See nach einer Schlucht und suchten Deckung. Fr. Riehl legte sich hinter ein Holz am See; wir haben sie seitdem nicht mehr gesehen. Der See hielt nicht richtig, und wir vermuten, daß sie eingebrochen ist; denn wir brachen auch ein. Wir standen im Schnee bis zur Hüfte, fühlten aber nichts. Die Panzer sahen wir auf der Straße kommen; sie waren alle weiß getarnt. Am Abend blieben die Panzer in gewissen Abständen überall stehen. Als es dunkel war, liefen wir zu einem Gehöft. Das gehörte zu Freiwalde. Hund und Gänse standen auf dem Hof, die Haustür war abgeschlossen; es waren unsere Soldaten drin. Im Stall übernachteten wir dann. Morgens aßen wir etwas mit den Soldaten zusammen und versorgten das Vieh. Die Soldaten zogen sich dann auf einem Hof zusammen, um uns nicht in Gefahr zu bringen.
Im Laufe des Tages füllte sich der Hof mit Flüchtlingen; sie waren alle von der Hauptstraße runter und wollten wieder zurück. Das Elend war groß bei kleinen Kindern, alten Leuten, Kranken und Gelähmten. Viele hatten schon ihre Angehörigen verloren. Sie luden viel von ihren Wagen ab, da die Pferde nicht mehr ziehen konnten; es hatte noch nicht aufgehört zu schneien. Wir sahen die Flüchtlingswagen auf der Straße fahren und bekamen Mut, und gingen zurück zu unserm Wagen nach Warneinen. Der Wagen war fast ausgeplündert, aber die Pferde liefen auf dem Hof herum. Mein Mann hatte sie wieder an den Wagen geholt und wollte anspannen, als ein russischer Offizier mit zwei Burschen auf den Hof geritten kam. Er stieg vom Pferd und fragte uns, ob Pole oder Nemske; wir sagten „deutsch“. Da nahm er seinen Revolver und hielt ihn uns auf die Brust, hob ihn dann höher und schoß ins Haus. Er schlug meinen Mann und mich ins Gesicht; meiner Tochter und Meta, die bei Riehls war und jetzt bei uns weilte, tat er nichts. Dann sagten sie noch etwas, was wir nicht verstanden und ritten fort. Die Burschen hatten uns noch durch Zeichen erklärt, nicht zur Hauptstraße zu gehen; da wäre alles voll Russen. Wir gingen dann wieder nach dem Hof in Freiwalde zurück, brachen wieder im See ein, aber bekamen nicht einmal Schnupfen.
Jetzt warteten wir auf unser Schicksal. Zuerst kam die Ukrainerin, die auf dem Hof gedient hatte; sie sagte zu uns, die Russen täten uns nichts, durchsuchte alles und nahm mit, was ihr gefiel und ging wieder fort. Nach 5 Tagen kamen 3 Russinnen, eine sprach deutsch, wollte Milch trinken und ließ erst einen von uns trinken, bevor sie die Milch nahm. Sie suchten auch das Flüchtlingsgepäck durch und nahmen allerhand mit, verschwanden dann aber wieder. Am nächsten Tag kam die Bäuerin mit ihrer Tochter zurück; sie waren bis vor Elbing gewesen. Dann kamen ältere Russen und wollten Getreide; auch sie taten uns nichts. Aber von da an ging unser Leiden los. Die Russen kamen jede Nacht, auch am Tag. Sie nahmen die beiden Mädchen. Unsere Tochter, die noch keine 14 Jahre war, verschonten sie durch unser Bitten. Es wurde aber dann so schlimm, daß die Mädchen sich immer verstecken mußten, auch von nun ab unsere Tochter. Dann kam eines Tages eine Herde Vieh auf den Hof und blieb da, bis es nach Rußland getrieben wurde. Nun waren die Mädchen gezwungen, aus dem Versteck zu kommen. Unglücklicherweise wurde da am Versteck ein Gewehr gefunden; keiner wußte, wie es dorthin gekommen war. Jetzt wurden die Mädchen als Partisanen verklagt. Von Osterode kamen Offiziere zur Verhandlung; sie sprachen deutsch und glaubten uns, daß wir nichts damit zu tun hatten. So ging das noch einmal gut ab. Wir mußten nun beim Vieh helfen und bekamen auch zu essen. Der Kommandant war ein Jude. Er sagte, er brauche uns zum Arbeiten, und keiner dürfe uns etwas tun.

Da hatten wir Glück; denn zu der Zeit wurden alle verschleppt. Er war in allem gerecht, sagte aber einmal zu uns, der Deutsche müßte noch viel mehr leiden, um das abzubüßen, was wir den Juden angetan hätten. Als sie mit dem Vieh abrückten, mußte mein Mann noch bis Osterode das Vieh treiben helfen. Unterwegs nahm ihn die GPU mit, er sollte nach Rußland, sah ihnen dann aber doch zu alt und schlecht aus, und so ließen sie ihn wieder los. Mein Mann war da 49 Jahre, aber man hielt ihn gut für 60 Jahre. Er war in kurzer Zeit schneeweiß und alt geworden. Bei dem Juden hatten wir es noch einigermaßen gehabt, aber nun begann eine schlechte Zeit. Gleich am andern Tag kam polnisches Militär, sperrte uns Hausbewohner ab und plünderte alles aus, nahmen auch jegliche Eßwaren mit. Jeden Tag kamen neue Plünderer, sogar die Asche im Herd wurde untersucht. Polenjungen von 14 Jahren hatten auch Revolver und amüsierten sich richtig, hielten uns die Waffe vors Gesicht und zwangen uns, Schuhe usw. auszuziehen. Später kam dann ein Erntekommando, nahm alle Personen auf, untersuchte die Mädchen auf Geschlechtskrankheiten. Die Mädchen sollten arbeiten und auch Essen bekommen. Man sagte uns, es braucht sich keiner mehr zu verstecken. Wir glaubten es auch. Alles ging dann mal richtig schlafen.
Nach 11 Uhr schlug es dann an Türen und Fenster, und auf dem Hof wurde geschossen. Jemand schrie: „Aufmachen!“ Der Offizier will meine Tochter haben. Mein Mann und ich waren starr vor Schreck. Schnell nahmen wir die Tochter in unser Bett. Sie mußte unters Unterbett runter, und wir beide legten uns drauf. Da war die Horde auch schon im Zimmer; es waren dieselben Offiziere, die uns am Tage alles Gute versprochen hatten. Die andern beiden Mädchen nahmen sie gleich mit, und meine Tochter suchten sie lange und überall. Wir hatten Glück, sie fanden sie nicht, obwohl sie ein paarmal am Bett waren und auch die Decke hochhoben. Es war wie ein Wunder, daß keiner von uns dreien einen Herzschlag bekam. Es war ein schwerer Kampf für uns, bis die Ernte drin war. Jede Nacht dasselbe. Die Mädchen immer im Versteck. Als dann die Russen abrückten, kamen wieder Polen, aber nur zum Plündern und nahmen uns alles weg. Dann hörten wir, es ging ein Transport nach Deutschland. Es wurde Fürchterliches davon erzählt, aber mein Mann meinte, Schlimmeres wie bisher kann uns schon nicht mehr passieren. So versuchten wir, am 15.9.1945 mitzukommen. Eine deutsche Ärztin aus Osterode verhalf uns dazu. Wir bekamen einen Paß von der polnischen Behörde, mußten uns aber einen Masuren mitnehmen, der polnisch verstand. Am 15. September waren wir dann auch im Zug drin, hatten aber teuer bezahlen müssen. Der Zug war überfüllt; die deutsche Ärztin war auch da und half, wo es ging, hatte Milch für die Säuglinge und auch Medikamente für die Kranken. Wir sahen schon alle die Freiheit winken. Plötzlich war dann der Bahnhof voller Soldaten, Miliz und auch Zivilisten. Alle Wagen (Viehwagen) wurden zugeschoben, und dabei stahlen die Soldaten schon von dem Gepäck, was an den Türen stand. Durch ein Astloch im Wagen konnten wir uns alles ansehen. An der Tür stand ein Posten. Dann wurde der erste Wagen aufgemacht; alle Personen raus, das Gepäck wurde auf einen Haufen geworfen. Jetzt suchten sie alle Arbeitsfähigen von 12 Jahren an aus; sie kamen alle in eine Ecke und wurden von Milizposten bewacht, Kranke und Alte kamen wieder hinein in den Zug. So ging es von Wagen zu Wagen, bis alles aussortiert war. Sie nahmen auch meine Tochter. Mein Mann und ich ließen uns nicht mehr in den Zug zurückbringen und blieben bei der Tochter, die 14 Jahre alt war. Es war ein fürchterliches Weinen und Jammern bei den Zurückgehaltenen und auch bei denen im Zug. Ein Lastwagen wurde mit dem Gepäck beladen und fuhr davon. Wir hatten wieder nichts, kein Stück Brot, keine Decke; wir standen und warteten auf unser Schicksal. Dann kamen Polen und suchten sich Arbeitskräfte aus. Wir kamen auf ein Gut Kraplau, Kr. Osterode. Da mußte ich noch einen 17 Jahre alten Jungen nehmen; die Eltern waren im Zug geblieben. Uns wurde eine Wohnung zugeteilt. Mein Mann mußte gleich Getreide auf den Speicher tragen. Die Arbeitszeit fing an, wenn es hell wurde und hörte im Dunkeln auf. Ich selbst brauchte nicht zur Arbeit zu gehen, hatte aber die 3 Arbeiter: meinen Mann, die Tochter und den Jungen zu versorgen. Für die Arbeit gab es etwas Roggen, Kartoffeln, Grütze und 1/2 bis 3/4 Liter Milch. Geld gab es noch keins. Ich war immer viel unterwegs, sammelte im Wald Früchte und  Pilze und  ging bei  den  Polen betteln. Was die drei verdienten, reichte nicht aus zum Sattwerden.
Die Bauernhöfe waren zum Teil von Polen bewohnt, da bekam ich schon gelegentlich etwas Brot und auch Obst. An Fett, Fleisch, Salz und Zucker gab es nichts. Die Familie von unserm Bürgermeister war auch in unserer Nähe. Herr Szisnat selbst war schon im Mai 1945 unter großen Qualen gestorben. Auf dem Gut, wo Frau Szisnat mit Schwiegertochter und den beiden Enkeln war, war es besser; sie hatten einen anständigen Administrator. Das Gut hieß Panzerei und war 7 km von uns entfernt. Ab Dezember gab es dann auch Geld, pro Tag 2 ½ Zloty; das war fast nichts; denn eine Schachtel Streichhölzer kostete 10 Zloty, ebenso das Porto für einen Brief. Wir waren aber schon sehr froh, daß wir uns Salz kaufen konnten. Bei uns ging es noch gut, da drei aus der Familie arbeiteten, aber bei anderen handelte es sich meistens um Frauen mit Kindern; da war der Hunger groß. Nachts ging alles in die Felder zum Stehlen: Rüben, Mohn, Möhren, Raps usw. Mit dem Stehlen nahm es unser Administrator Torowski nicht so streng; er zog selbst oft auf Raub aus und bestahl seine eigenen Landsleute. Die Gutsleute, die noch dageblieben waren, fast nur Frauen, hat er überlistet, und sie ließen sich zu Polen machen. Von der Zeit an bekamen sie das Doppelte an Zuteilungen, auch an Zlotys. Aber behandelt hat er sie noch schlechter als uns. Er schlug die Frauen und jungen Mädchen oft sehr mit der Reitpeitsche, so daß sie sich tagelang nicht rühren konnten. Es waren auch viele junge Mädchen, die keine Eltern hatten. Mit denen machte er, was er wollte. Uns gegenüber erlaubte er sich nicht so viel, weil mein Mann noch da war. Nur einmal schlug er meine Tochter, weil sie ihn nicht verstand; denn wir haben trotz der langen Zeit nicht polnisch gelernt. Gearbeitet wurde auch sonntags, wenn das Wetter es erlaubte. Es kamen auch viele Spenden aus den USA. Davon bekamen wir aber nichts; nur diejenigen, die für Polen optiert hatten, erhielten etwas. Einer bekam sogar eine Kuh, die die Amerikaner später mal besichtigten. Das Gut selbst erhielt schöne Pferde und Traktoren. Ärztliche Hilfe konnten wir nicht in Anspruch nehmen; diese mußte jeder bezahlen, und das konnten wir nicht.
1946 kam dann das Dänische Rote Kreuz. Sie fuhren mit Autos von Dorf zu Dorf mit Ärzten und Schwestern, und jeder konnte zu ihnen gehen. Es herrschten sehr die Krätze und Typhus. Die Dänen gaben uns Salben und Tabletten und verbanden auch, wo es erforderlich war. Alle waren unsern Helfern in der Not dankbar. Im zweiten Jahr wurde es etwas besser; unser Tageslohn war bis 16 Zloty gestiegen, Milch gab es auch etwas mehr, sowie das Fleisch von krepierten Pferden und Kühen. Vereinzelt gingen auch Transporte mit Alten und Kranken nach Deutschland ab. Mein Mann war auch viel krank und lag zuletzt drei Monate, ohne aufzustehen. Ich ging oft fragen bei den Polen, ob wir nicht auch nach Deutschland fahren dürften. Der Administrator versprach es uns auch; er sah, daß mein Mann nicht mehr konnte, und meine Tochter war auch richtig fertig von der schweren Männerarbeit und dem schlechten Essen.
Endlich am 15. September 1947 ging ein Transport von Osterode ab. Man sagte es uns erst gegen Mittag, und der Zug sollte bald abgehen. Es wurde überall so gemacht, damit wir schnell fort mußten und nichts einpacken konnten. Ich hatte noch ein Federbett in einen Sack gesteckt, und als der Administrator kontrollieren kam, wollte er es uns fortnehmen, ich bat ihn sehr, er sollte es uns doch lassen. Da sagte er: „Gut, nehmt mit; Pranzkat hat immer gut gearbeitet, besser als Pole.“ Der Junge, den wir bei uns hatten, mußte bleiben. Er war ganz verzweifelt. Mit uns kamen noch fünf Familien von dem Gut weg, alles Leute, die verbraucht waren. Bis Osterode wurden wir gefahren. Der Zug war schon überfüllt, und wir standen als letzte auf der Liste und sollten nicht mehr mit. Es war furchtbar, hatten wir doch schon geglaubt, bald in Freiheit zu sein. Da geschah für uns ein Wunder, aber für die armen Menschen, die aus dem Zug heraus mußten, war es fürchterlich. Ein Gut hatte einen Wagen geschickt und seine Leute wieder zurückgeholt, die am Tage vorher schon hergebracht worden waren, weil sie zum Dreschen nicht genug Leute hatten. Unsere Leidensgenossen warfen sich auf die Erde und stiegen nicht ein in den Wagen, wurden dann aber mit Gewalt hingeschleppt, und wenn sie versuchten, sich irgendwo festzuhalten, mit der Peitsche auf die Hände geschlagen. Jetzt war für uns Platz da und wir fuhren mit. Der Transport war schlecht, und in den Lagern war es noch schlechter, auch Hunger herrschte überall; aber alles wurde mit neuem Mut ertragen vor Freude auf die Freiheit und das Wiedersehen mit unseren Kindern. Von unsern Bekannten hatte jeder Familienmitglieder im Westen. Mit demselben Transport fuhren auch Szisnats mit; wir zwei Familien waren die einzigen, die noch zusammen waren. Später erfuhren wir auch vom Schicksal unserer anderen Dorfbewohner; es ist allen schlecht ergangen. Trotzdem warten wir alle auf den Tag, an dem wir unsere Heimat noch einmal wiedersehen werden. —

Lehrer Schlenther fügt dem Bericht handschriftlich hinzu: Die ganze Familie Pranzkat fand sich in Eschweiler zusammen, wo die sehr tüchtigen Kinder die Verluste bald aufholten. Pranzkat sen. hat von diesem Lichtblick allerdings nur noch wenig erleben dürfen. Einige Monate nach der Ankunft in Eschweiler ist er gestorben. Er hat sich von den Strapazen, die hinter ihm lagen, nicht mehr erholen können. Dabei war er schon vom Ersten Weltkrieg her schwer kriegsbeschädigt. Die Schreiberin hat mir mitgeteilt, daß Lene Busching, Gerda Plath und Frieda Giebler — letztere verheiratet — nach Rußland verschleppt wurden. Pinnau ist als Kriegsgefangener in Frankreich geblieben und hat seine Familie dorthin geholt. Familie Passerat hat eine Siedlung in der Ostzone. Karschucks sind tot, und die alten Ragowskys sollen von den Russen erschlagen worden sein. Die andern sind indessen alle im Westen gelandet. Schlenther.