Klein Trakehnen
Klein Trakehnen
gebildet aus den Gestütsvorwerken Guddin, Jodszlauken, Jonasthal und Mattischkehmen, mit Waldhaus Jodszlauken und Waldhaus Mattischkehmen – (auch Remontedepot Brakupönen und ein Teil des Packledimmer Hochmoors):
Nun sind Jahre darüber vergangen, und all das Schwere, das dieses Land erlitt, lebt nur noch in der Erinnerung. Wo einst die Felder von Granattrichtern wild durchwühlt waren, zieht längst wieder ruhig der Pflug, und über die langen Schützengräbenreihen schreitet friedlich der Mensch. Die zerschossenen Höfe sind aufgebaut, und es würde dort heute nichts mehr an den Krieg erinnern, wenn nicht hier und da verstreut über das Land Heldengräber mit Kreuzen aufragen würden.
Keins von den sechzehn Vorwerken des großen Gestüts ist vom Krieg so hart mitgenommen wie gerade Mattischkehmen, das Vorwerk, das am weitesten nach Westen vorgeschoben ist, und dessen Felder allmählich aus der Ebene ansteigen.
Der 20. August wird für immer ein Tag traurigsten Gedenkens sein für jene Landschaft und für unsere Heimat überhaupt. Freund und Feind, wie sie an diesem Tage starben, sind hier zur letzten Ruhe gebettet worden. In dem kleinen Wäldchen, dicht an der Straße nach Mattischkehmen, ruhen sie auf dem stillen, schönen Ehrenfriedhof.
Tief geht er ins Wäldchen hinein, von hohen Tannen und Eichen wie von einer schützenden Wand rings umgeben. Ein breiter Gang zwischen niedrigen Lindenhecken führt zu ihm hinauf. In langen Gräberreihen ruhen sie hier, ich zähle achtzehn Reihen hintereinander. Wieviel Glück und wieviel Hoffnung liegen hier begraben! Tafel steht an Tafel. Meine Augen gehen traurig darüber hin und bleiben bei diesem und jenem Namen stehen. Von vielen sind die Namen überhaupt nicht genannt, und es steht nur: „Acht unbekannte Deutsche.“ Oder an anderer Stelle: „Sechs unbekannte Krieger.“ Die Regimenter 61, 128, 141 und 176 haben hier am meisten geblutet. Dichtes Immergrün spinnt die niedrigen Hügel ein. Hier und da leuchtet noch eine letzte Blüte auf.
Still schreite ich die langen Reihen entlang bis zum Ende des Friedhofes und steige über drei Stufen zu einer Erhöhung hinauf. Junge helle Birken im Herbstschmuck stehen an der Seite, ernste Tannen dahinter. Ein Kranz von Gräbern zieht sich ringsherum. Offiziere und Mannschaften ruhen hier. Aus der Mitte ragt ein schlichtes Holzkreuz hoch auf, das ernst und mahnend über die langen Gräberreihen sieht. —
Das Kreuz weist hinüber zu einer Anhöhe. Dort haben Angehörige des Regiments 61 ihren gefallenen Kameraden ein würdiges Ehrenmal errichtet. Auf einem Sockel erhebt sich ein Obelisk mit der Inschrift: „Zu Ehren der in heißem Ringen / am 20. August 1914 gefallenenen Helden / des Inf.-Reg. v. d. Marwitz (8. Komp.) Nr. 61.“
Es war an einem Herbsttag, als ich auf der Erhöhung stand und über die weiten Gräberreihen sah. Neben mir stand der weißhaarige Alte aus dem Holzhäuschen dicht bei dem Friedhof, der hier die Gräber betreut. Tiefer Friede spann sich um die Hügel. Geheimnisvoll rauschte es in den Wipfeln. Fein klangen daraus die Stimmen von Meisen und Goldhähnchen. Warme Herbstsonne vergoldete der Bäume buntes Laub. Ab und zu fiel ein goldnes Blatt nieder auf ein Grab. Eine Weile stand ich mit dem Alten zusammen, wir sahen in den Frieden hinein und keiner von uns wagte, durch Worte hier die Ruhe zu stören.
Nur noch wenige Wochen trennen uns von dem Tag, dem Totensonntag, an dem das ganze Volk seiner Toten gedenkt. Dann werden die Gedanken vieler von wer weiß wo hierhereilen, dann werden Menschen kommen aus den nahen Dörfern und vor diesen Gräbern stehen und den stummen Helden danken für das Opfer, das sie für uns alle gebracht haben. — Sie starben, daß wir leben konnten.“
Als am 25. Januar d. J. Abgeordneter Kopsch, so schreibt die Pr. Lehrerzeitung, wieder über die schlechte Behandlung der Trakehner Kollegen Klage erhob, suchte der Vertreter des Landwirtschaftsministeriums (Herr v. Hammerstein selbst hatte sich für den Tag als krank abgemeldet) die berechtigten Klagen abzuschwächen mit der Behauptung, daß es an den Lehrern selbst liege, ein Lehrer z. B. habe seine Pflicht in der Schule nicht getan und habe daher bestraft werden müssen. Da diese Behauptung in die Öffentlichkeit hineingerufen wurde, so hat die Öffentlichkeit auch ein Recht, den wahren Sachverhalt zu erfahren, eine wahre Leidensgeschichte eines Lehrers, der um ein Haar ein Opfer der traurigen Verhältnisse geworden wäre, die seit Jahren in Trakehnen herrschen. Es handelt sich hier um den Kollegen L. (Lamprecht 1897) aus Jonasthal, einem Vorwerk des Hauptgestüts Trakehnen. Dieser muß in einem überfüllten, niedrigen, ungesunden, und auch in vieler andrer Hinsicht zum Schulzimmer höchst ungeeigneten Lokal unterrichten. Seine Wohnung weist auch verschiedene Mängel auf, die durchaus nicht günstig auf die Gesundheit wirken. Dazu kommen noch verschiedene Unannehmlichkeiten, die dadurch entstehen, daß Schullokal und Lehrerwohnung unter dem Dach zugleich mit gewöhnlichen Arbeiterwohnungen in einem ganz alten Arbeiterhause sich befinden. Das Schülermaterial im Gestüt und so auch in Jonasthal ist im Vergleich zu anderen Dorfschulen ein schlechtes zu nennen — die Gründe dafür werden wir nach Schluß des bekannten Prozesses erörtern — wodurch der Unterrichtserfolg sehr erschwert wird. Durch gewisse Verhältnisse im Gestüt wird dazu noch die Autorität der Lehrer stark erschüttert. Außerdem ist der Schulbesuch, besonders im Sommerhalbjahr, durchaus nicht der beste, da die Kinder vielfach landwirtschaftliche Arbeiten besorgen müssen. Überhaupt werden die Schulkinder im Gestüt vor und nach der Schulzeit tagtäglich zu viel mit landwirtschaftlichen Arbeiten beschäftigt. Schon morgens um 5 und 4 Uhr sieht man die Schulkinder — sogar die der „ersten Schuljahre“ — in Tätigkeit. Sie müssen ihren Eltern und anderen Angehörigen das Frühstück sogar bis eine halbe Meile weit auf das Feld etc. nachtragen, die Kühe zur Tränke und zur Weide bringen, den Kuh- und Schweinestall säubern, das Futter für diese Tiere besorgen etc. Nach solcher anstrengenden Morgenarbeit kommen dann die armen Kinder zur Schule. Daß diese dann, höchst abgemattet und abgespannt, für die Schularbeit unbrauchbar sind, bedarf wohl nicht erst noch eines langen Beweises. Nach Schluß der Unterrichtsstunden bis zum späten Abend wiederholen sich dieselben Arbeiten, wozu nun noch die Bearbeitung des Kartoffel-, Rüben- und Kohlfeldes kommt. An das Aufgeben irgendwelcher häuslichen Arbeiten zur Einprägung und Befestigung des in der Schule behandelten Stoffes kann daher der Gestütlehrer nicht denken. Es gehört somit unter oben geschilderten Verhältnissen schon das Einsetzen der ganzen Kraft eines völlig gesunden Lehrers dazu, um allgemein genügende Resultate zu erzielen. Nun denke sich der Leser aber noch hinzu, daß die Trakehner Lehrer und nicht zum wenigsten Kollege L. unter den bekannten in der Presse und im Abgeordnetenhause genügsam erörterten schlechten Verhältnissen seit Jahren zu leiden hatten. Es wäre daher kein Wunder, wenn unter solchen Umständen selbst einem Herkules die Kräfte versagten. Um so weniger dürfen wir uns wundern, daß die Gesundheit des Kollegen L. einen mächtigen Ruck bekam. Er ist nämlich seit den letzten Jahren auch lungen- und nervenleidend geworden, wie durch ärztliche Atteste bewiesen ist. Daß L. nun während seiner Kränklichkeit, noch dazu unter erwähnten Umständen und so ungünstigen Schulverhältnissen, nicht so viel leisten konnte, wie in seinen gesunden Tagen, ist daher wohl selbstverständlich. Andern Trakehner Gestütsbeamten — auch solchen, die sich noch in viel günstigerer Lage als Kollege L. befanden — verschaffte Landstallmeister v. Oettingen des öftern Urlaub und namhafte Unterstützungen bis zu 300 Mk. auf einmal, ja sogar Unterbeamte (Stutmeister etc.) erhielten bis zu 150 Mk., und einer von ihnen, der mit dem Titel Gestüthofaufseher bedacht ist, der zur Erziehung seiner Töchter eine Gouvernante halten und seinen Sohn die tierärztliche Hochschule besuchen lassen kann, erhielt eine Unterstützung von 300 Mk. im Vorjahr. Des Kollegen L. jedoch gedachte niemand. Ihm wurde weder eine Unterstützung noch ein längerer Urlaub zur Wiederherstellung seiner Gesundheit zuteil. Der Kollege arbeitete daher eben so gut und so lange er konnte. Wenn seine Kräfte aufs äußerste erschöpft waren, dann setzte er auf ärztlichen Rat einmal die Schularbeit aus, das heißt jedoch höchstens 8—14 Tage, erholte sich ein wenig unter ärztlicher Behandlung und begann dann seine dornenvolle Berufsarbeit von neuem ohne Murren und Klagen. Gerne hätte der Kollege einmal wenigstens die Sommerferien zu einer ihm so notwendigen Kur benutzt. Doch ihm fehlten die Mittel dazu, da er nie eine Unterstützung erhielt und man anderseits die „neunstufigen“ Alterszulagen für die Zeit vom 1. April 1897 bis 1. April 1899 ihm noch heute nicht gezahlt hat; auch die von einem Vertreter des Landwirtschaftsministeriums dem Kollegen am 1. November 1899 versprochene besondere Zuwendung als Ausgleich für gewisse Ausfälle hat der Kollege noch nicht erhalten. Der kranke Kollege wurde von der Gestütsverwaltung nicht nur nicht unterstützt, sondern Herr v. Oettingen nahm ihn im Winter 1900 noch in eine Geldstrafe von 15 Mk. (das ist das höchste Strafmaß, das der Landstallmeister verfügen darf), weil nicht alle Schüler der Jonasthaler Schule nach dem Bericht des Kreis- und Lokalschulinspektors Pfarrer K. zu Sz. Genügendes leisteten. Noch bevor dem Kollegen L. das Strafmandat zugestellt war, gab er die Erklärung ab, daß sein angegriffener Gesundheitszustand ihm eine größere Kraftaufwendung in der Schule nicht mehr gestatte, und verwies auf das Zeugnis des ihn behandelnden Arztes. Doch vergeblich! Am 25. Januar d. J. hatten die Auseinandersetzungen zwischen dem Abgeordneten Kopsch und dem Regierungsvertreter über den Fall L. stattgefunden, bei welcher Gelegenheit Herr Kopsch auch der Fähigkeiten des betreffenden Schulinspektors mit einigen Bemerkungen gedachte. Mitte Februar d. J. revidierte Pfarrer K. wieder L.s Schule, worauf Herr v. Oettingen beim Landwirtschaftsministerium L.s zwangsweise Pensionierung beantragte. L., dem davon Kenntnis gegeben wurde, reichte nun dem Ministerium ein Gesuch um vierteljährlichen Urlaub und Unterstützung unter Darlegung der wirklichen Tatsachen ein; denn eine Pensionierung wäre für den erst 45jährigen Kollegen mit einem Häuflein unversorgter Kinder das furchtbarste Unglück gewesen, das man sich hätte denken können. Lange keine Antwort! Glücklicherweise kam nun der Wechsel im Landwirtschaftsministerium, und der Nachfolger v. Hammersteins, Herr v. Podbielski, entschied anders, als der Landstallmeister beantragt hatte, denn kurz vor dem 1. Juli d. J. erhielt Kollege L. den ministeriellen Bescheid, daß ihm drei Monate Urlaub und 100 Mk. Unterstützung gewährt seien zur Wiederholung seiner Gesundheit, wahrlich ein heller Lichtstrahl endlich in des Kollegen dunkles Leidensleben! Der Kollege wird nun, wie wir hören, ein Bad aufsuchen, und wir wünschen von Herzen, daß ihm diese Hilfe nicht zu spät gekommen sei, daß volle Genesung ihm zu teil werden möge.