Nemmersdorf


Übersicht – Quelle: Gumbinnen von Dr. Grenz

Nemmersdorf

mit Gut Kaimelswerder, Gut Werfen (Pennacken), Waldhaus Nemmersdorf, Gut Schroedershof und Vorwerk Moskau:

Kirchspiel Nemmersdorf. Amtsbezirk und Standesamtsbezirk Nemmersdorf. E.: 637. GH.: 960,— RM. G.: 870 ha.Dreiklassige Volksschule, letztes Schulhaus vor 1914 erbaut. Nach Stellenausschreibung in der LZ vom 2.10.1896 erhielt der 2. Lehrer 650,— Mark Jahresgehalt, Wohnung und Feuerung. Bewerbungen waren an die Regierung in Gumbinnen zu richten. 1925: Präzentor und Hauptlehrer Friedrich Schienagel, Lehrer Fritz Schienagel und Lehrer Karl Simoneit. 1937: Lehrer Fritz Sawitzki, Lehrer i. R. Robert Seifert, Lehrer Karl Simoneit, Lehrerin Elise Steinbacher. —

1937: Bürgermeister Emil Vogel. —

Post: Nemmersdorf über Gumbinnen (12 km). —

Pfarrer Hans Puschke, Prediger Hans Burmeister. —

Arzt Dr. Eckard von Bassewitz. —

Kontrollinspektor Walter Hückstädt. —

Technische Lehrerin Eleonore Jahn. —

Kunstmaler Heinz Liers. —

Gendarmerie-Hauptwachtmeister Fritz Giese, Gendarmerie-Wachtmeister Emil Streich. —

Molkereipächter Erich Sosat, Molkereiverwalter Wilhelm Zwahlen. —

Landwirte: Erich Feller, Hermann Klaus (Landwirt i. R.), Erich Kollecker, Eduard Meczulat (Landwirt und Maurer), Karl Meyer, Fritz Nehrkorn, Gustav Orth (Landwirt und Stellmacher), Franz Rothgenger, Johann Spieshöfer. —

Grundbesitzerin Berta Aschmoneit. —

Handwerker: Fleischermeister Bernhard Brosius, Tischlermeister Emil Brukat, Schneidermeister Albert Butzkies, Schmiedemeister Friedrich Damerau, Maschinenschlossermeister August Eschmann, Sattler und Glöckner Albert Fischer, Schneider Franz Förster, Schmied Paul Fröhlich, Fleischermeister Emil Gruber, Bäckermeister Fritz Henkies, Schuhmacher Emil Kischlat, Tischler Emil Klaus, Fleischer Hermann Kleinschmidt, Schmied Erich Kurbjun, Sattler Fritz Lange, Schuhmacher Rudolf Lange, Schneidergeselle Oskar Lebendig, Sattlermeister Franz Marquardt, Maurer und Landwirt Eduard Meczulat, Schneider Willi Mehlhorn, Tischler Willi Metschulat, Stellmacher Gustav Mißner, Maurer Gustav Mißner, Schmied Kurt Müller, Fleischermeister Heinrich Niederlehner, Schmied Walter Petczelies, Schuhmacher Otto Petrat, Ofensetzer Friedrich Pirk, Schneider Ludwig Schäfer, Maler Johann Schewe, Müllergeselle Emil Schieleit, Friseur Ernst Schiemann, Maurer Fritz Schrang, Schmied Emil Statkus, Schmied Ernst Stutzki, Schneider Otto Thormann, Ziegelbrenner Richard Timm, Schlosser Ehrenfried Tolzke, Kunstgärtner Gustav Warnat, Schmied Wilhelm Williamowski, Schneiderin Emma Wisotzki, Schneiderin Lina Wisotzki, Tischler Karl Zimmermann, Mühlenbesitzer Max Zindler. —

Weitere Berufe: Wirtin Elli Aschmoneit, Dentistin Liesbeth Baltrusch, Kutscher Otto Basner, Kraftwagenführer Walter Behrendt, Landw.-Eleve Fritz Bieber, Postbote Fritz Börsch, Milchprüfer Klaus Dannowski, Landw.-Eleve Hans-Ulrich Dreves, Schweizer August Drewenskus, Kaufmann und Gastwirt Franz Eder, Nachtwächter Albert Enderweit, Kutscher Franz Engelhardt, Försterwitwe Helene Hillgermann, Gespannführer Otto Hinz, Schachtmeister Friedrich Hobeck, Straßenwärter Friedrich Kaschning, Gespannführer Fritz Knabe, Gespannführer Ernst Kuhn, Landw. und Postagent Fritz Kuhn, Hebamme Minna Kühn, Kutscher Otto Lesner, Chauffeur Karl Mißner, Instmann Fritz Motzkus, Hofgänger Franz Saager, Kaufm.-Gehilfe Walter Salecker, Gespannführer Franz Schawaller, Kutscher August Schneider, Försterwitwe Berta Schulz, Schweizer Eduard Schwelnus, Instmann Jacob Seib, Obermelker Emil Spei, Kaufmann Willi Stachetzki, Ziegelbrenner Richard Timm, Hausangestellte Minna Tomuschat, Fahrrad- und Radiohändler Emil Vogel, Geschäftsinhaberin Helene Vogel, Geschäftsinhaberein Margarethe Vogel, Kutscher August Weinowski, Gespannführer Gustav Wichmann, Kaufmann und Gastwirt Otto Woweries, Kutscher Fritz Zahlmann, Gespannführer August Zarm. —

Deputanten: Fritz Dulz, Gustav Eckert, Franz Faak, Gustav Fürstenberg, Ferdinand Hinz, Wilhelm Kattluhn, Fritz Nolting, Johann Paleit, Max Schaal, Fritz Stagat, Julius Stutzki. —

Arbeiter: Reinhold Arndt, Ernst Bohn, August Dreistein, August Girod, Franz Grajetzki, Anna Henkies, Fritz Henkies, Fritz Kreuzberger, Karl Kreutzberger, Karl Kuschnerus (Freiarbeiter), Gustav Motzkus (Landarbeiter), Friedrich Neukamm, Wilhelm Neukamm, Fritz Sahnau (Freiarbeiter), Eliese Schlupp (Arbeiterin), Franz Schmidt, Friedrich Schmidt, Fritz Schombach, Paul Schombach, Willi Schombach, Otto Schwarz, Ludwig Seifried, August Sukowski, Fritz Thielert (Landarbeiter), Richard Wagner, Ida Wahl (Arbeiterin), Karl Weinowski (Landarbeiter), Otto Wiese, Fritz Ziehr. —

Sozialstatus: Rentner Heinrich von Almen, Johann Aschmoneit (ohne Beruf), August Barth (Rentenempfänger), Johanne Becker (ohne Beruf), Anna Buttgereit (ohne Beruf), Rentenempfänger Carl Donner, Frieda Ehrenboth (ohne Beruf), Witwe Auguste Fuchs, Witwe Marie Gonswa, Witwe Emilie Hofer, Witwe Henriette Hofer, Altsitzer Karl Hofer, Karl Kaminski (kein Beruf angegeben!), Altsitzer Eduard Kollecker, Kriegerwitwe Amalie Kossien, Kleinrentner Hermann Kühnert, Invalide Gustav Lange, Witwe Karoline Lange, Witwe Luise Lau, Kriegsbeschädigter Otto Löprich, Rentenempfängerin Berta Naujoks, Kriegerwitwe Minna Norkus, Kriegerwitwe Johanna Pählke, Altsitzer Carl Schilbe, Witwe Berta Schombach, Altsitzerin Emilie Soldat, Rentenempfängerin Rudolf Sonnak, Rentenempfängerin Karoline Stagat, Rentner Friedrich Techler, Rentenempfängerin Auguste Vogler, Johann Vogler (ohne Beruf), Rentenempfängerin Elisabeth Voutta, Rentner Matthias Wisotzki, Rentenempfängerin Auguste Zahlmann, Rentenempfängerin Auguste Zimmat. —

Im Ortsteil Kaimelswerder: Gutsbesitzer Fritz Feller, Inspektor Clemens Neumann, Oberschweizer Reinh. Roggenfeld, Landarbeiter Otto Bartsch, Arbeiter August Fuchs, Witwe Karoline Fuchs, Deputant Gottlieb Koch, Rentenempfänger Friedrich Krause, Rentenempfängerin Wilhelmine Matull, Deputant Eduard Pfau, Rentnerin Luise Pfau, Rentenempfänger Friedrich Renkwitz, Deputant Emil Seraphin, Deputant Karl Wannagat. —

Im Ortsteil Pennacken: Gutsbesitzer Bruno Sinhuber, Kinderpflegerin Hildegard Siedermann, Obermelker Richard Mignat, Kutscher Fritz Fuchs, Tischler Franz Blaschkowski, Arbeiter Heinrich Fenselau, Hofgänger Ernst Maitre, Arbeiter Friedrich Maitre, Arbeiter Fritz Maitre, Rentner August Neubauer, Arbeiter Matthes Neubauer, Deputant Emil Schlösser, Hofgänger Otto Schlösser, Arbeiter August Wagner, Arbeiter Franz Zeika. —

Im Ortsteil Schroedershof: Kontrollassistent Ewald Isakowski, Bauer Hans Grimm, Melker Franz Aßmus, Deputant Hermann Ennulat, Arbeiter Wilhelm Führer, Deputant Fritz Kattluhn, Vorarbeiter Gustav Leichert, Arbeiter August Müller, Arbeiter Otto Paulun. —

Im Jahre 1925 in Nemmersdorf: Gutsbesitzer Otto Schröder, Franz Rothgenger (Molkereibesitzer), Besitzer: Albert Schübe, Berta Aschmoneit, Johann Aschmoneit, Heinrich Nehrkorn, Emil Kamm, Hermann Klaus, Eduard Metschulat (Bauunternehmer). —

Monteur Emil Vogel (Besitzer). —

Oberlandjäger Hermann Scheffler, Gustav Graffenberger. —

Arzt Dr. Paul Ulrich, Tierarzt Werner Pollack. —

Pfarrer Eugen Henkys. —

Diakonissin Friderike Schwirkslies. —

Postagent Fritz Kühn. — Stellvertreterin Gertrud Böhm. — Postschaffner: Eduard Müller, Heinrich Köslin, Emil Riegel. — Posthelferin Erna Soldat.   —

Hausdame Johanna Becker. —

Wirtschaftsinspektor Fritz Nietz.

Rechnungsführer Otto Vetter. —

Meierin Anna Nehrkorn. —

Haushälterin Helene Schilbe. —

Försterwitwe Helene Hillgermann, geb. Klischat. —

Hebamme Johanne Dünkel, geb. Müller. —

Kaufleute: Fritz Vogel, Franz Geschwandtner, Fritz Kühn (Postagent), Alois Sanderling. —

Mühlenbesitzer Max Zindler, Fritz Henkies. —

Straßenmeister Gustav Gehrau. —

Hausbesitzerin Maria Vogel. —

Geschäftsinhaberinnen Margarete und Helene Vogel. —

Kunstgärtner Gustav Warnat, Paul Bork. —

Fleischbeschauer Friedrich Techler. —

Schmiedemeister Emil Stattkus. —

Fleischer: Bernhard Brosius, Heinrich Niederlehner. —

Maler Johann Schewe. —

Schlosser Franz Weller. —

Schmiede Otto Rothaupt, Andreas Hofer, Friedrich Nehrkorn. —

Tischler Emil Brukat. —

Schneider Fritz Dunkel, Ludwig Schäfer (Besitzer), Franz Milbrett. —

Klempner Hermann Kühnert. —

Maschinenbauer Hermann Baltruschat. —

Sattler Fritz Lange, Franz Schlosser, Franz Marquardt. —

Schuhmacher: Rudolf Lange, Otto Petrat (Besitzer). —

Stellmacher Hermann Gußmann (Besitzer), Gustav Orth (Besitzer). —

Maurer: Franz Metschulat, August Skroblin.

Oberschweizer Richard Mignath. — Unterschweizer Gustav Lettau. —


Gut Nemmersdorf 1925: Gutsbesitzer Karl Meyer. — Landwirte: Egon Ebers, Erich Feller. — Kontrollassistent Ernst Eidt. — Gärtner Erich Berschuck. — Dienstmädchen: Lina Wisotzki, Emma Sabrowski, Lina Moos. — Meiereipächter Fritz Petri. — Kaufmann Franz Eder. — Deputanten: Franz Buttgereit, Fritz Matzkus, Gustav Bähr, Ferdinand Brandt, Friedrich Sabrowsky, Emil Seraphin, Mathias Wisotzki, August Motzkus, Fritz Jonetat, Wilhelm Maleschka, Fritz Thiel, Jacob Leib, Friedrich und Karl Kreuzberger. — Oberschweizer Eduard Schwellnuß. — Schmied Friedrich Damerau. —


Gut Kaimelswerder 1925: Gutsbesitzer Kurt Meyer in Nemmersdorf. —


Gut Pennaken 1925: Gutsbesitzer Emil Sinhuber. — Wirtin Martha Hasenbein. — Schweizer Johann Ilginnis. — Deputanten: Wilhelm Müller, Friedrich Maiter, August und Franz Wagner, Fritz Zimmer. — Vorarbeiter Heinrich Fenselau. —


Im Archiv der Kreisgemeinschaft Gumbinnen befindet sich ein ausgefüllter Ortsfragebogen mit einer Skizze und den Erläuterungen für die Eintragungen:  

  1. Gut Meyer, ca. 800 Morgen. 2. Kirche. 3. Pfarrhof. 4. Schulen, dreiklassig. 5. Elektrogeschäft Walter Vogel. Gemeindehaus, Dr. med. von Bassewitz. Hans Spieshöfer, ca. 80 Morgen. 8. Friedhof. 9. Textilgeschäft Fritz Vogel. 10. Schmiede, gehört zum Gut, Pächter: Emil Stattkus. 11. Insthaus Meyer. 12. Insthaus Meyer. 13. Gasthaus Roter Krug, gehört zum Gut, Pächter: Franz Eder. 14. Gasthaus Weißer Krug, gehört zum Gut, Pächter: Otto Woweries. 15. Fritz Kuhn, ca. 20 Morgen (Poststelle). 16. Gemeindehaus. 17. Fleischerei Adolf Kaminski. 18. Textilgeschäft? 19. Schmiede Andreas Hofer. 20. Gemeindehaus (Polizeiposten, Standesamt, Wegemeister, Zahnärztin). 21. Fleischerei? 22. Schlosserei Maschinenbaumeister Eschmann. 23. Sportplatz, 24. Ehrenhain. 25. Franz Rotgänger, ca. 800 Morgen. 26. Schrödershof, ca. 300 Morgen. 27. Vorwerk Moskau. —

Nach Angaben des Fragebogens war zuletzt eine Zahnärztin Frl. Baltrusch am Ort, als Arzt war bis 1945 Dr. von Bassewitz tätig.

Die Mühle war eine Motormühle.

Als sagenumwobener Berg ist der Galgenberg zu nennen.

Nemmersdorf lag an der Linie eines Postbusses, der mehrmals täglich zwischen Gumbinnen und Hohenfried (Spirokeln) verkehrte. —

Werbeinserate aus Nemmersdorf aus der Zeit nach 1933 nach Werbeseite einer Gumbinner Tageszeitung:

  1. Weißer Krug / Nemmersdorf, Fernruf 11. Inhaber Otto Woweries. Restaurant und Saalbetrieb. Fremdenzimmer. Gepflegte Getränke. Kolonialwaren. Haus- und Küchengeräte, Eisenwaren. Holz, Kohlen und Briketts. Spirituosen, Weine, Zigarren, Tabake. — 2. F. W. Vogel / Nemmersdorf. Fernruf 18. Kolonial-, Material- u. Eisenwarengeschäft. Manufaktur-, Kurzwaren und Konfektion. — 3. Franz Eder, Nemmersdorf. Telefon 22. Gut gepflegte Getränke. Ferner empfehle ich sämtliche Kolonialwaren, Spirituosen, Weine, Zigarren, Tabake. Haus- und Küchengeräte, Eisenwaren. — 4. Töpfer-Arbeiten führt aus Friedrich Pirk, Nemmersdorf. Eigenes Kachellager. — 5. Fahrräder und Zubehörteile. Radio-Apparate aller Fabrikate. Reparaturen billigst. Aku-Ladestation. Emil Vogel, Nemmersdorf. Telefon Nemmersdorf 62 / Tankstelle. —

Zur Geschichte des Ortes schreibt Frau Erika Feller mit Datum vom 15.5.1971:

„Nemmersdorf war das größte Kirchdorf des Kreises Gumbinnen und wurde im 13. Jhdt. zum ersten Mal erwähnt. In einer alten Urkunde dieser Zeit stand, „daß der Wildnisbereiter Friedrich Erdmann Nemmersdorf zu Lehn erhielt. Er war gehalten, seinen Zins dem Amt Dingelau zu entrichten und sein Bier von der Ordensbrauerei Georgenburg zu beziehen“. Die Gründung der evangelischen Pfarrkirche wurde auf Anweisung von Herzog Albrecht, verstorben im Jahre 1569, vorgenommen. Im Jahre 1767 kam es zur Erneuerung der Kirche. Den Altar schreibt man der Werkstatt Isaac Rigas zu. Die Kirche hat beide Weltkriege überstanden; das ist vielleicht einer Inschrift am Hauptportal zu verdanken. Dort stand in russischer Sprache: ,Dieses Heiligtum darf nicht zerstört werden‘. Herr Pfarrer Henkis hatte diese Inschrift zum Schutze gegen das Wetter unter Glas setzen lassen. —


In Kirchenrechnungen des Jahres 1625/26 fand man Notizen vom Bestehen einer Schule in Nemmersdorf. Später im Jahre 1737 werden die Schulen Schublau (Szublauken), Angerhöh (Szuskehmen), Kleinpreußenbruch (Klein-Pruschillen) und Langenweiler (Kollatischken) genannt. Die Schule in Nemmersdorf hatte 3 Klassen. Sie war im Ersten Weltkrieg abgebrannt. Beim ersten Überfall der Russen waren 3 betrunkene Kosaken von der zurückgebliebenen Bevölkerung in den Schulkeller eingesperrt worden; nachrückende Russen haben jedoch die Kosaken befreit, die Schule in Brand gesteckt und einige Männer des Dorfes als Gefangene mitgenommen. —

Landwirtschaft: Zur gleichen Zeit, als im Jahre 1786 Herr Käswurm das Rittergut Puspern kaufte, erwarb ein Freiherr von Lyncker das Rittergut Nemmersdorf. Am 3. Juli 1818, als Gumbinnen eine Kreisverwaltung erhielt, wurde der Sohn und Besitzer des Rittergutes Nemmersdorf der erste Landrat dieses Kreises. Im Jahre 1840 trat er dieses Amt an Herrn Burchard aus Schöppenfelde (Krauleidszen) ab. Die Familien Burchard (Kieselkehmen, Krauleidszen und Austinehlen) besaßen wohl in jener Zeit die größten landwirtschaftlichen Betriebe des Kreises. Ein Freiherr von Lyncker heiratete eine geborene Burchard und bekam als Heiratsgut das Vorwerk Moskau (später Vorwerk von Eszerischken) und den Weißen Krug mit. Er muß ein tüchtiger Landwirt gewesen sein. Auf Moskau, das auf der anderen Seite der Angerapp lag, hatte er eine Schäferei eingerichtet. Vor der Schur trieb man die Schafe zum Waschen in die Angerapp. Auch war ein Südhang zur Angerapp als Obstplantage angelegt worden. Ein Verwandter der Familie soll in Amerika als Botanikprofessor gelehrt haben; so waren auch im Park verschiedene seltene Bäume zu finden. Es gab dort zu unserer Zeit noch 2 Hickorynußbäume, mehrere Walnußbäume, eine besonders hohe Edeltanne, die die meisten Parkbäume überragte und noch verschiedene Pflanzen, die man im Osten sehr selten antraf. Die Edeltanne und ein Teil der Nußbäume hatten leider den strengen Frostwinter 1928/29 nicht überstanden. Der letzte Freiherr von Lyncker ist recht früh verstorben und sein Sohn beim Baden in der Angerapp ertrunken. Der landwirtschaftliche Betrieb ist dann bald verkauft worden. Der Vater der Verfasserin dieses Berichts war bis zur Flucht der letzte Besitzer dieses Betriebes, den er als 3. Landwirt nach der Familie Freiherr von Lyncker erworben hatte. —

Das Vereinsleben war in Nemmersdorf recht rege, und die lange Winterzeit hat man sich oft durch Feste verkürzt. Vor allen Dingen zeigte sich der Vaterländische Frauen-Verein vom Deutschen Roten Kreuz unter Leitung von Frau Landesrat Burchard – Austinehlen als sehr rührig. So gab es im Sommer und im Winter je ein Wohltätigkeitsfest. Von den Einnahmen auf diesem Fest wurde eine Gemeindeschwesternstation bezahlt. Schließlich mußten in diesem Zusammenhang Pferd und Wagen gehalten werden, damit die Gemeindeschwester auch die entferntesten Orte erreichen konnte. Frau Landesrat Burchard amtierte auch als Vorsitzende des landwirtschaftlichen Hausfrauenvereins, der in Gumbinnen eine Verkaufsstelle eingerichtet hatte. Dorthin konnten alle Landwirtsfrauen ihre Erzeugnisse aus dem Garten, Geflügel usw. zum Verkauf hinbringen. —

Sonst gab es am Ort noch die Feuerwehr, die unter der Leitung von Dr. med. Faßhauer besonders tatkräftig wirkte. Neben anderen berufsinteressierten Vereinen bestand ein sehr reger Sportverein. Neben Fußball und Leichtathletik wurde vor allen Dingen Faustball gespielt. Im Winter kam die weibliche Jugend in der Schule zu Näh- und Handarbeiten zusammen, die mit einer Ausstellung jeweils ihren Abschluß fanden.“ —


Die Brücke von Nemmersdorf

Nemmersdorf liegt an der Angerapp und zwar größtenteils am westlichen Ufer, während östlich und unfern des Ufers nur das Anwesen von Hans Spieshöfer und das Vorwerk Moskau liegen. Eine Brücke überquert den Fluß und verbindet die beiden kleinen Außenpositionen mit dem Dorf. Es handelte sich um eine massive Brücke, über die schon im Verwaltungsbericht des Kreises Gumbinnen für das Rechnungsjahr 1899/1900 Angaben gemacht werden, und zwar heißt es: „Der Neubau der Angerapp-Brücke in Nemmersdorf wird im Sommer 1900 in Angriff genommen und im Herbst 1901 beendet werden.“ „Die vorläufige Kostenanschlagssumme beträgt ca. 55 000 Mark. Die Kosten werden aus dem Wegebaufonds gedeckt.“ Im Verwaltungs-Bericht für 1900/1901 heißt es weiter: „Der Neubau der Angerapp-Brücke in Nemmersdorf wird voraussichtlich im Herbst 1901 fertiggestellt werden.“ Die Kosten-Anschlagssumme beträgt jetzt 60 000 Mark. Daß die Bauarbeiten planmäßig verlaufen sind, entnehmen wir dem Bericht von 1901/02: „Die neue aus Zementstampfbeton erbaute Angerapp-Brücke in Nemmersdorf ist im Herbst 1901 fertig gestellt. Die bis zum 6. Februar 1902 verausgabten Baukosten betragen 56 632,17 Mark.“ —

Über die weitere Geschichte der Brücke gibt ein Zeitungsausschnitt aus der Zeit vor 1945 im Archiv der Kreisgemeinschaft Gumbinnen Auskunft mit der Überschrift:

„Wie die Nemmersdorfer Brücke in die Luft flog.“

Es heißt darin: „Die Schlacht bei Gumbinnen tobt. 21. August 1914! Riesige Flüchtlingszüge ziehen westwärts, um hinter der Angerapp Halt zu machen, weil jeder annimmt, daß der Feind bis hierher nicht folgt. Diese Annahme wurde jedoch getäuscht. Die „russische Dampfwalze“ rückt näher und erreicht die Angerapplinie Nemmersdorf. Die Deutsche Heeresleitung erteilt den Befehl, alle Angerappbrücken zu sprengen, um den Russenvormarsch aufzuhalten. Auch die Nemmersdorfer Brücke sollte dieses Schicksal teilen. Leutnant Warnecke vom Pionier-Batl. 17 hatte den Auftrag, diese Brücke — massiv, aus Beton — zu sprengen. Mit einem Unteroffizier und vier Mann befestigte er rund 400 Sprengkörper vermittelst einer Bohle auf der Brücke. Der 22. August 1914 rückte heran. Auf dem feindwärtigen Ufer befanden sich noch die 4. Jäger zu Pferde zur Sicherung. Nachdem dieses Regiment 20 Minuten vor 5 Uhr morgens ebenfalls die Brücke überschritten hatte, drehte Leutnant Warnecke den Schlüssel des Glühzündapparates herum, und im Angesicht der ersten Kosaken flog die stolze Nemmersdorfer massive Brücke mit ohrenbetäubendem Getöse in die Luft. Gleichzeitig wurden von dem kühnen Sprengtrupp noch fünf in der Nähe liegende Scheunen in Brand gesteckt, um dem Gegner kein Material zum behelfsmäßigen Brückenbau in die Hand zu liefern.“ —

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Brücke wieder massiv aufgebaut. Damit begann ein neuer Abschnitt ihrer Geschichte, der gegen Ende des Zweiten Weltkrieges einen erneuten Höhepunkt erfuhr.

In „Das Ostpreußenblatt“ vom 21.9.1963 (Nr. 38) berichtet der ehemalige Organisation-Todt-Obermeister‘ Ernst Jendreyzik aus Winsen/Luhe, Hoopter Straße 26, unter dem Titel „An der Brücke bei Nemmersdorf“:

„Nachdem sowjetische Panzer über Nemmersdorf hinaus im Oktober 1944 durchgebrochen waren, bei welcher Gelegenheit auch die hohe Brücke über die Angerapp schwer beschädigt worden war, wurde ich mit meiner Einheit dorthin beordert, um eine Notbrücke herzustellen und die beschädigte Brücke wieder in Ordnung zu bringen. Wir hatten dort festgestellt, daß die Eindringlinge 13 Menschen ermordet hatten, darunter ein kleines Kind von 2 Jahren. Diese 13 Leichen wurden von uns in einem Massengrab auf einer Anhöhe neben dem Dorf beigesetzt. In der Nacht vor dieser Beisetzung hatte ein feindlicher Flieger mit einer Bombe ein Haus getroffen, in dem Kameraden einer anderen Einheit gelegen haben. Hierbei wurden 6 Mann schwer getroffen, deren Leichenteile in Zelten an derselben Stelle in einem besonderen Massengrab beigesetzt wurden. Da ich dienstlich außerhalb von Nemmersdorf zu tun hatte, stellte ich bei dieser Gelegenheit fest, daß der Gegner hinter Nemmersdorf einige seiner Panzer stehen lassen mußte. Ich konnte jedoch nicht erkennen, ob diese von unserer Abwehr unbrauchbar gemacht wurden, oder die beschädigte Brücke sie an der Weiterfahrt gehindert hatte. Einer von diesen Panzern blieb auf dem beschädigten Teil der Brücke hängen, dessen Waffen noch geladen waren. Ich fand auf ihm eine ganz neue Strickjacke, die ein Russe in Nemmersdorf in einem großen Geschäft gestohlen hatte. Ich konnte Sie jedoch beim Einsatz gut gebrauchen, weil Ende Oktober das Wetter schon ziemlich kalt wurde, und mir deshalb diese Strickjacke sehr gute Dienste geleistet hat, zumal ich damals auch schon 53 Jahre alt gewesen bin. Wir haben in Nemmersdorf keinen toten sowjetischen Soldaten angetroffen, wissen demnach nicht, ob damals dort welche gefallen waren.“

Obwohl im vorliegenden Werk bereits ein Abschnitt über die Grausamkeiten der Rotarmisten in Nemmersdorf und Umgebung vorgelegt worden ist, sollen an dieser Stelle noch einige weitere Unterlagen präsentiert werden. Dem Archiv der Kreisgemeinschaft Gumbinnen hat Frau Käte Kless, aus Nordenham, einen Zeitungsausschnitt einer deutschen Tageszeitung vom 27. Oktober 1944 in Fotokopie übersandt.

Er trägt die Oberschrift: „Die Mörder von Nemmersdorf“, verfaßt von Kriegsberichter Kurt Lothar Tank. Bevor der eigentliche Bericht beginnt, ist die Notiz vorangestellt: „Angesichts dieser Ereignisse muß heute der deutsche Kulturteil zurücktreten. Wir bringen dafür diese Schilderung bolschewistischer ,Kultur‘!“

Hierauf wird folgende Schilderung der Ereignisse von Nemmersdorf gegeben: „Nemmersdorf, 27. Oktober. (PK).

Das im Oktoberlicht blitzende Flüßchen, die Angerapp, durchzieht die kleine ostpreußische Ortschaft Nemmersdorf und schwingt sich dann in einem weiten, schönen Bogen um die von einem mächtig hohen Steilhang begrenzte Feldmark. Weiden, Erlen und Birken bilden den herbstbunten, farbenprächtigen Hintergrund. Aus den ringsum bestellten Äckern ragen die ersten zartgrünen Spitzen. Ein Idyll scheint dieses ostpreußische Dörfchen darzustellen, eine Stätte ungestörten Friedens. Doch dieses Bild eines von den Schrecken des Krieges ungestörten Ortes bleibt nur bestehen, so lange man zur Flußniederung schaut. Wendet man den Blick dem Dorfe zu, so bemerkt man bis auf den Grund niedergebrannte Häuser und im Vordergrund auf dem sorgfältig bestellten Acker dunkle, unförmige Klumpen: die Leichen ostpreußischer Männer, Frauen und Kinder. 26 grauenhaft entstellte Körper von Erschlagenen und Erschossenen, Greisen und Kindern, von geschändeten und ermordeten Mädchen. Ein unvergeßliches Bild unmenschlichen Grauens! —

Deutsche Soldaten, Fallschirmjäger, die dieses Dorf wieder erobert haben, betrachten mit erschreckten Gesichtern das furchtbare Bild. Sie haben in mehr als fünf Jahren viel Grauenhaftes erlebt, sie kennen den Tod in seiner schonungslosesten Erscheinung. Doch der Anblick ihrer hingemordeten Landsleute übersteigt alles, was sie bisher erlebt haben. Selbst die Höllenbilder aus Warschau, die noch so blutig in ihrer Erinnerung lebendig sind, verblassen davor. —

Sie sehen auf den Blutacker, doch ihre Seele weigert sich, diese Bilder des beispiellosen Grauens aufzunehmen. Menschen der gleichen Art mit ähnlichen Gesichtszügen, meistens Bauern, die sie seit Wochen gastfrei aufgenommen haben in ihren Quartieren, liegen da tot vor ihnen. Die meisten von ihnen sind entstellt, die Hände und Wangen, Stirn und Kiefer zerfetzt, Hals und Brust blutüberströmt; die meisten von ihnen nach unglaublichen Mißhandlungen durch Genickschuß getötet. Ein 19jähriges dunkelhaariges Mädchen — in ihrer ausgeraubten, aus Stroh geflochtenen Tasche steckte die zerknitterte Kennkarte — Grete Waldowski aus dem Kreise Darkehmen ist offenbar mit brutalster Gewalt genotzüchtigt und dann ermordet worden. Ihr zur Seite liegt ein sechs Monate alter Säugling in blauer Wollkleidung, das Köpfchen durch einen Pistolenschuß blutig entstellt. —

Die fahle Oktobersonne leuchtet bleich und anklagend über den grauen Blutterror an der Angerapp. Grau und verarbeitet sind die Hände der von den Sowjets hingemordeten Männer und Frauen. Sie haben unter unsäglicher Anspannung für ihre Heimat, für ihr Volk die Ernte eingebracht, die Äcker bestellt. Viele von ihnen sind dann noch Tag für Tag zum Schippen angetreten. Erdgrau und rissig sind ihre verarbeiteten und nun von Blut überströmten Hände, in ihrer letzten wie hilflos greifenden Gebärde verkrampft an ihren Leibern liegend. Tränenlos starr stehen die deutschen Soldaten vor ihnen, Männer jener Fallschirmjägerdivision, die den Ort Nemmersdorf vor kurzem wiedererobert haben. Aus ihrem Blick spricht der Wille, nun noch härter und schonungsloser gegen die Sowjets zu kämpfen. —

Nemmersdorf, die kleine freundliche Ortschaft, 10 Kilometer südöstlich von Gumbinnen gelegen, ist nach zwei Tagen einer blutigen bolschewistischen Herrschaft ein Dorf des Todes, ein Dorf des Schweigens geworden. Kein Bewohner des Ortes ist zu sehen. Wer vor den Mördern nicht flüchten konnte, liegt tot in den Häusern, am Straßenrand, auf den Äckern oder in den Schluchten der Angerapp. Zaghaft kommen einzelne Bewohner aus den Nachbardörfern, in denen die Sowjets ebenfalls schlimm gehaust haben. Mit bleichen, verstörten Gesichtern erzählten sie stockend, was sie in den vergangenen schrecklichen Tagen erlebt haben. Sie wagen die Toten von Nemmersdorf, von denen sie viele gekannt haben, nicht anzusehen. Ein 23jähriges Mädchen, Charlotte W., aus dem Nachbarort erzählt, was sie und ihre Eltern am 21. und 22. erlebt haben. —

„Mein Vater ist Bauer. Er hat eine Wirtschaft von 113 Morgen. Ich bin immer auf dem Hof meiner Eltern gewesen und habe dort gearbeitet. Am 21. Oktober, es war Sonnabend und sehr neblig, verließen wir den Hof. Wir hatten gehört, daß die Bolschewisten kämen. Als wir 100 Meter vom Hof weg waren, kamen Russen, schossen und riefen: ,Stoi‘! Sie rissen meinem Vater die Taschenuhr weg, nahmen ihm das Taschenmesser und die Tabakspfeife. Wir wurden in unserer Wohnstube eingesperrt. Als wir auf den Hof kamen, schossen die Sowjets wieder. Meine Mutter wurde durch einen Streifschuß an der Schulter verwundet. Nach einer Viertelstunde brachten andere Bolschewisten den Altsitzer Karl Schütz aus der Nachbarschaft, einen alten Mann von 76 Jahren, er war am Arm verwundet und blutete stark. Sie haben den Altsitzer dann wieder weggebracht, und wir mußten zurück in unsere Wohnstube. Die Sowjets hatten inzwischen alle Schränke durchwühlt, Lampen und Fenster zerschlagen. Sie saßen am Tisch, und wir mußten ihnen Fleisch bringen. Sie verlangten immer wieder Schnaps. Während wir in der Stube waren, haben sie unsere Waren durchwühlt und sich herausgenommen, was sie brauchen konnten. Am Nachmittag kam ein Lastauto. Es hatte vorn ein Geschütz drauf. Die Sowjets ließen durch einen polnischen Landarbeiter sagen, das Fräulein solle herauskommen, sie hätten ein paar Fragen zu stellen. Ich mußte mit dem Auto zum Nachbargehöft des Altsitzers mitfahren. Der alte Mann lag in seinem Hausflur. Die Bolschewisten hatten ihn erschossen. Da wollte der eine Russe, wahrscheinlich ein Offizier, irgendetwas von mir. Ich verstand nicht, was er meinte. Er griff nach seiner Pistole. Dann machte er meinen Mantel auf und deutete durch Zeichen an, was er wollte. Er war mit mir allein im Zimmer. Er vergewaltigte mich. Dann ging er aus dem Zimmer, und der zweite Offizier, der mitgefahren war, kam herein. Er tat dasselbe. Dann fuhren beide los.“ —

Es gibt in allen Ländern Menschen — und die feindliche Agitation rechnet mit ihnen — die die Auffassung vertreten, daß das, was die Deutschen über den bolschewistischen Terror erzählen, übertrieben sei — ja, die Sowjets hätten ein Interesse daran, die deutschen Zivilisten zu schonen. — Man führe Menschen, die so sprechen — es sind verbrecherisch blinde Narren — nach Nemmersdorf in Ostpreußen! Dort sollen sie angesichts der Ermordeten, Erschlagenen und Geschändeten wiederholen, was sie von Milde und Menschlichkeit der Moskauer Machthaber gesagt haben. Man führe diese Menschen in die Schluchten von Teichhof im Kreise Gumbinnen! Auf einer kleinen Anhöhe liegt ein halbzerstörtes Gehöft, das Vieh ist verendet, die Bauern sind ermordet. In der Schlucht liegen Frauen vergewaltigt und ermordet neben ihren hingemordeten Kindern. Auch eine schwangere Frau haben die Bolschewisten geschändet und dann umgebracht. —

Das sind nicht einzelne Taten einer sadistischen Horde — das ist systematischer Massenmord, wie ihn nur die Sowjets kennen. Sie denken nicht daran, ein Tarnprogramm der Schonung deutscher Zivilisten zu demonstrieren. Nein, sie führen die Befehle des Juden Ehrenburg und des Befehlshabers der 33. bolschewistischen Armee durch! Sie töten wahllos deutsche Menschen, schänden deutsche Frauen, wo sie sie finden. —

Die Schreckenstage von Nemmersdorf wird der deutsche Soldat niemals vergessen. Er hat die Mörder deutscher Männer und Frauen aus Nemmersdorf hinausgeworfen, und er wird sie weiter zurücktreiben, denn er weiß, was die deutschen Zivilisten erwartet, wenn er nur einen Schritt zurückweicht. Der Krieg ist in sein gnadenlosestes Stadium getreten. Hier endet alles, was man bisher in Begriffe fassen konnte. Die bestialische Bluttat von Nemmersdorf wird den Bolschewisten teuer zu stehen kommen. — Lebend an die Wand genagelt. — Gerichtsärzte und Sanitätsoffiziere haben am 25. und 26. Oktober in den befreiten Orten Ostpreußens an Ort und Stelle ihre Untersuchungen durchgeführt und sämtliche Einzelheiten in Protokollen und Bilddokumenten festgehalten. Hierbei konnte folgende Feststellung über die bestialischen Greuel der Sowjethorden getroffen werden: In der bereits genannten Ortschaft Nemmersdorf, die 12 Kilometer westlich Gumbinnen liegt, wurden insgesamt 26 Leichen aufgefunden, darunter 13 Frauen, 9 Männer und 4 Kinder. Bei 24 Ermordeten ergab die Leichenschau, daß der Tod durch Nahschuß, zumeist in den Kopf, eintrat. In einem Fall wurden Stichwunden festgestellt und in einem weiteren Fall Kopfverletzungen, die darauf schließen lassen, daß der Mord mit irgend einem scharfen Gegenstand auf besonders bestialische Weise ausgeführt wurde. Bei den Frauenleichen konnten die Gerichtsärzte in mehreren Fällen bestätigen, daß ein Notzuchtverbrechen der Bolschewisten in der gemeinsten Weise vorgenommen worden war. —

An einer Straße bei Nemmersdorf wurden 13 weitere Leichen gefunden, darunter vier Frauen und sechs Kinder sowie drei Männer. Hierbei handelte es sich um die Flüchtlinge, deren Treck durch einen Vorstoß der Bolschewisten überrollt worden war. Auch sie waren, wie die Untersuchungen ergaben, aus nächster Nähe niedergeschossen worden und bei drei Frauen konnten einwandfrei die Anzeichen einer Vergewaltigung festgestellt werden. —

In Tutteln, einem Ort, der drei Kilometer östlich von Nemmersdorf liegt, wurden insgesamt sieben Leichen, darunter vier Frauen und drei Kinder, gefunden. Auch sie waren sämtlich durch Nahschüsse ermordet. —

Ein besonders grausiges Bild ergab die Besichtigung in Alt-Wusterwitz, das 10 Kilometer südlich von Gumbinnen liegt. Hier fanden sich insgesamt 15 Leichen, größtenteils in verkohltem Zustande. Ein junges Mädchen war, wie die ärztlichen Untersuchungen ergaben, durch einen Schuß aus nächster Entfernung in die linke Augenhöhle getötet. In einem Stallraum konnten die Leichen eines alten Mannes und einer alten Frau geborgen werden. Die Leiche des Mannes wies Durchstoßmerkmale an beiden Handflächen auf, die in Verbindung mit den Blutspuren und der Armstellung dieses Mannes deutlich erkennen ließen, daß er lebend an eine Wand genagelt worden sein muß. Eine ältere schwer verwundete Frau, die einzige Überlebende aus diesem Bereich, die inzwischen in ein Lazarett eingeliefert worden ist, hat dieses furchtbare Verbrechen durch ihre Aussage bestätigt. —


Über die im vorangegangenen Dokumentationsbericht bereits erwähnten Vorgänge auf dem Schroedershof berichtet Frau Grimm, die Ehefrau des ermordeten Landwirts Johannes Grimm:

„Es war am 20.10.1944, ungefähr um 7 Uhr morgens, als sich mein Ehemann, Hauptmann a. D. und Landwirt Johannes Grimm, geboren am 14. Juni 1907, meine Tochter Sabine, mein Sohn Joachim und meine Schwiegermutter Maria Grimm, meine Mutter Maria Schroeders und zehn polnische Arbeiter, sechs polnische Frauen und deren Kinder von unserem Hof, dem Schroeders-Hof bei Nemmersdorf, mit den beladenen Flüchtlingswagen in Bewegung gesetzt hatten. In diesem Augenblick erschienen plötzlich aus der Richtung Berkeln und an der Mühle eine Menge russischer Soldaten, die wir im Nebel nicht gesehen hatten. Sie halten uns mit vorgehaltenen Gewehren an und zwingen uns, von den Wagen abzusteigen. Der erste Wagen, ein geschlossener Spazierwagen, kann, obwohl er beschossen wird, im Nebel noch entkommen. In diesem befinden sich Mutter, Schwiegermutter und die beiden Kinder. Die Russen beschimpfen uns. Sie wollen die Deutschen ausrotten, und nachdem sie den Männern die Uhren fortgenommen haben, umringen sie meinen Ehemann, nehmen ihn einige Schritte mit, und ehe ich den Vorgang bemerken kann, ist er durch einen Schuß in die Schläfe getötet worden. Einige Polen, welche aus Warschau stammen, wollen sie auch noch erschießen, lassen dann aber doch ab. Nun werden die Wagen und alle Gebäude durchsucht und, so weit es geht, alle Dinge vernichtet. Während dieser Zeit ziehen mir die Polen schlechte Sachen an, binden mir ein Tuch um und machen mich unkenntlich. Sie nennen mir einen polnischen Ort, geben mir einen polnischen Namen. Ich solle kein Wort Deutsch sprechen. Zum Glück beherrsche ich einen Teil der polnischen Sprache. Sie halten mich außerdem im Hintergrund. Ringsum werden wir von Russen bewacht, damit wir nicht fliehen können. Wir sind ins Leutehaus gegangen. Es dauert nicht lange, da kommen mehrere Russen zu uns und fragen, ob wir Deutsche sind. Doch die Polen verneinen diese Frage, obwohl die Russen ihnen mit dem Tode drohen, wenn sie Deutsche versteckt halten. Ein Russe beobachtet mich eine Weile, ohne etwas zu sprechen, wird jedoch abgelenkt, da die anderen russischen Soldaten weiter nach Nemmersdorf stürmen. In den nächsten zwei Tagen gehen die Russen hin und her, ohne sich um uns zu kümmern, da wir uns im Leutehaus hinter einer beschädigten Mauer befinden und die Russen hier keine Menschen vermuten. Nach zwei Tagen sehe ich einen deutschen Soldaten. Er will mir zu gegebener Zeit zur Flucht verhelfen. Am folgenden Tage erscheinen weitere deutsche Soldaten, gerade, als ich mit den Polen in unserem Park meinen Ehemann beerdigt hatte. Sie raten mir zur sofortigen Flucht, da der Russe in Nemmersdorf alle Menschen getötet habe und wohl auch bald wieder bis hierher kommen wird. Trotz großer Fliegertätigkeit sind wir in Abständen mit mehreren Wagen den Feldweg nach Kieselkehmen bis nach Sodehnen und später nach Danzig gekommen.“ —

In dem Bericht eines deutschen Landsers, der nach Nemmersdorf gekommen war, heißt es:

„Als dann — nach den Greueln in Nemmersdorf — noch eine überrumpelte Feldwache gefunden wurde, deren Männern man die Gurgel durchgeschnitten hatte, ist in keinem von uns das Gefühl des Abscheus und der Rache mehr zu unterdrücken. In diesen Stunden wäre wohl auch bedenkenlos jeder Feind mit erhobenen Händen niedergemacht worden. In jenen Tagen schreibe ich einen Brief nach Hause, daß es unverantwortlich sei, einem russischen Soldaten Gnade zu gewähren. Doch als wir am nächsten Tage zwei schwerverwundete russische Soldaten auf dem Felde finden, schlagen wir sie dennoch nicht tot. . . Die Kameraden, denen diese beiden Russen mit fieberglänzenden Augen entgegensehen, sind vielleicht nicht einmal gläubige Christen, aber sie überführen die Schwerverwundeten in das nächste Lazarett. Vielleicht sind es Russen, die an den Greueln von Nemmersdorf beteiligt gewesen sind. Aber sie sind hilflos und verwundet. An ihnen gilt es, eine menschliche und selbstverständliche Pflicht zu erfüllen.“ —

Einen wichtigen Augenzeugenbericht über die Vorgänge in Nemmersdorf liefert Frau Marianne Stumpenhorst aus Teichhof. Der Bericht befindet sich im Bundesarchiv in Koblenz und es heißt darin:

„Am 20. Oktober 1944 morgens 5 Uhr, begann unsere Flucht aus Teichhof, Kr. Gumbinnen (Gemeinde Tutteln). Die Straße Gumbinnen—Angerapp war von Militärfahrzeugen und Flüchtlingstrecks dermaßen verstopft, daß an ein Vorwärtskommen nicht zu denken war. Am Galgenberg, dicht vor der Nemmersdorfer Angerappbrücke, stockte der Verkehr vollkommen, und wir konnten mit dem Treck nicht mehr weiter. Viele ließen ihre Habe im Stich und machten sich zu Fuß auf den Weg in Richtung Nemmersdorf. Zu unserem Entsetzen tauchten an den Hängen der Angerapp an diesem nebligen Oktobermorgen die ersten Russen auf. Sie machten zunächst einen abwartenden Eindruck, pirschten sich dann aber näher, und ehe wir uns versahen, standen sie vor uns. Sie nahmen den Flüchtlingen im Vorbeigehen Uhren und Schmuck ab. Plötzlich tauchten russische Panzer auf mit den ersten deutschen Gefangenen. An ein Weiterfahren war nicht mehr zu denken; die Polen, die unsere Wagen gefahren hatten, waren sofort zu den Russen übergelaufen. Meine Mutter und ich waren zunächst unschlüssig, was wir nun beginnen sollten, aber am Nachmittag machten wir uns zu Fuß auf den Heimweg. Die Landschaft war trostlos einsam, und wir hatten gar nicht das Gefühl, durch die eigenen Felder zu gehen. An unserem Hof standen schon russische Kommissare, und ein sicheres Gefühl warnte uns, auf den Hof zu gehen. Gleich hinter unserem Garten an der Landstraße nach Tutteln standen viele Russen und durchbohrten mit ihren Waffen die Treckwagen. Als wir uns in unserer Angst etwas näher umzuschauen wagten, boten sich uns die ersten Schreckensbilder. Zu beiden Seiten der Brücke sah man an den Abhängen vergewaltigte Frauen, die ermordet waren oder blutüberströmt noch in den letzten Zuckungen lagen. Wir wurden wieder nach Schmuck und Wertsachen durchsucht, und es mußte sehr schnell gehen, sonst drohte man uns zu erhängen. Im nächsten Dorf, Tutteln, trafen wir 2 Frauen und einen alten Mann, die uns anboten, bei ihnen einstweilen zu bleiben. In Tutteln waren zunächst keine Russen, und so blieb uns noch Zeit, schnell alte Waffenbestände unserer Soldaten zu verstecken. Am nächsten Morgen erschienen die Russen mit vorgehaltenen Messern und Gewehren und fragten nach Waffen, Schnaps und Kindern, durchsuchten die Häuser, aber taten uns nichts. Gegen Abend setzten starke Kampfhandlungen ein, und die Russen holten uns in einen Bunker, der schon mit Russen vollkommen überfüllt war. Als es nach Stunden ruhiger wurde, holten mich zwei Russen in einen anderen Bunker, in dem sich nur russische Offiziere befanden. Ich wurde höflich behandelt, mußte aber viele Fragen beantworten, vor allem wer der Besitzer unseres Hofes war. Ich gab mich als fremde Flüchtlingsfrau aus, die die Gegend nicht näher kenne, bezweifle aber, daß sie es mir geglaubt haben. Sie ließen sich Bilder über die Deutsche Wehrmacht und unsere Lebensmittelkarten erklären, die sie gefunden hatten. Ihr größtes Interesse galt meiner Schulbildung, ob ich eine Universität besucht hätte und Fremdsprachen spreche. Ich hatte den Eindruck, daß sie mich nach Rußland als Dolmetscherin mitnehmen wollten. Nach diesem langen Verhör wurde ich wieder in unseren Bunker gebracht, in dem wir die weitere Nacht verbrachten. Gegen Morgen holte mich ein Russe heraus und trieb mich in ein beschädigtes Bauernhaus. Ich hatte furchtbare Angst, ahnte ich doch, was mir bevorstand. Ich redete ihm gut zu, und ich weiß nicht, woran es lag, daß ich auch hier von dem Entsetzlichen verschont blieb. Als ich mich im Morgengrauen zurücktastete, hatten wieder Kampfhandlungen eingesetzt. In unserem Bunker befanden sich nur noch meine Mutter und die anderen Deutschen, die Russen waren abgezogen. Die Einschläge wurden nun immer stärker, und wir rechneten jeden Moment damit, daß der Bunker über uns zusammenstürzen würde. Nach Stunden wurde es dann stiller, doch wir wagten uns nicht heraus. Plötzlich ertönte über uns eine deutsche Stimme: ,Heraus!‘, und ich werde dieses Gefühl nie vergessen, als wir deutsche Soldaten vor uns sahen. Wir fielen uns in die Arme und lachten und weinten vor Freude. Es war unseren Soldaten noch einmal gelungen, die Russen zu vertreiben, und sie brachten uns zunächst nach Gut Kieselkeim (Kieselkehmen), wo wir uns einige Tage aufhielten. Von da aus kamen wir in die umliegenden Dörfer und auch nach Nemmersdorf, wo sich inzwischen die furchtbaren Greueltaten zugetragen hatten. Man hatte alle Toten auf den Acker neben den Friedhof gelegt, und Mitglieder der Partei verlangten von mir, daß ich die Toten identifizieren sollte. Ich erwartete damals mein erstes Kind und lehnte es aus diesem Grunde energisch ab. Auch in Wiekmünde (Norgallen) war eine Mordtruppe durchgezogen, und in einem sehr zerstörten Bauernhaus lag der Besitzer mit durchschnittener Kehle im Bett. Die wenigen Bewohner des Dorfes, die nicht geflohen waren, waren ebenfalls ermordet. Wir hielten uns ungefähr eine Woche in der Umgebung von Nemmersdorf auf, auch auf unserem Teichhof durften wir noch 2 Tage zubringen. Die Kampfhandlungen nahmen wieder zu, und die Soldaten sorgten dafür, daß wir allmählich unseren Evakuierungskreis Osterode erreichten.“ —


Eine Schilderung der Vorgänge von Nemmersdorf in militärischer Hinsicht gibt Th. Rammstedt in den „Herzberger Nachrichten“ vom 11. Oktober 1954: unter dem Titel: „Der Schrecken von Nemmersdorf“:

Es wird die Frage gestellt, wie der überraschende Durchbruch der Sowjets auf Nemmersdorf im Oktober 1944 gelingen konnte und die Erklärung gegeben:

„Fünf russische Armeen mit etwa 40 Infanteriedivisionen und zahlreichen motorisierten und Panzer-Verbänden mit etwa 1500 Panzern, griffen die 4. deutsche Armee an, der im Verlauf dieser ersten Abwehrschlacht um Ostpreußen unter General Hoßbach nur 6 Infanterie-, 2 Panzer-, 1 Panzer-Grenadier-, 6 neu aufgestellte Volksgrenadier-Divisionen und 1 Sicherungsdivision, 1 Grenadier-Brigade, zwei Kavallerie-Brigaden und ein kleiner Polizeiverband zur Verfügung standen. Die sowjetische Heeresleitung wollte den frontalen Durchbruch in Richtung Königsberg. Ihr Hauptstoß richtete sich deshalb entlang der großen Straße, die von Wilkowischken über Gumbinnen nach Insterburg führt. Etwas später trat die Rote Armee auch südlich der Rominter Heide zum Angriff an und nahm Goldap. Die Sowjets setzten starke Panzer-, Artillerie-und Fliegerverbände ein. Erbittert wehrten sich die deutschen Truppen, wichen schrittweise zurück, führten verzweifelte Gegenangriffe, konnten schließlich den Feind im Gegenangriff bis hinter die Rominte zurückschlagen. Am 28. Oktober ließ die Schlacht nördlich der Rominter Heide nach, während Goldap erst am 5. November befreit wurde. Zwei Tage dauerte allein der Häuserkampf in dieser schwergeprüften ostpreußischen Stadt. Die Front der 4. Armee war nach Abschluß der Kämpfe auf 150 km Breite und etwa 40 km Tiefe zurückgedrückt worden. 

Als am Montag, dem 16. Oktober, die Straße Angerapp—Insterburg und damit der Weg nach Königsberg bedroht wurde, da standen kaum Feldtruppen zur Verfügung. Insterburger Rekruten und Offiziersanwärter, die noch in der Ausbildung waren, wurden in die Bresche zwischen Teilen der Panzergenadier-Division ,Hermann Göring‘ und einer Infanteriedivision geworfen. Die Verbindung war kilometerweit unterbrochen. Und der Russe hatte die besten Stellungen in jenen Gräben bezogen, die deutsche Festungspioniere und die ostpreußische Bevölkerung zum Schutz ihrer Heimat in den Monaten vorher angelegt hatten. Dünn war der Sicherungsgürtel, der vor die Rote 11. Gardedivision gelegt wurde. Aber die Kampfkraft, auch der Rekruten, war einmalig, da die meisten ostpreußische Söhne waren und sich für diesen Einsatz freiwillig gemeldet hatten; denn sie wußten bereits aus den Schreckensmeldungen der Flüchtlinge, daß hier nicht nur Haus und Hof verteidigt wurden, sondern auch Sicherheit und Leben der Angehörigen. Hart war der Kampf um Nemmersdorf. Das eine Panzergrenadierbataillon hatte z. B. über die Hälfte aller Offiziere durch Tod oder Verwundung verloren. Aber schlimmer als dieser Kampf war das, was man in den eroberten Orten erblickte. Von Mund zu Mund ging bei den Soldaten und Zivilisten die Schreckenskunde von Nemmersdorf. Diese Bestialitäten der Sowjets trieben die Soldaten zum verzweifelten Widerstand an. Und die Zivilbevölkerung befiel das Grauen und die Verzweiflung. Bilder von Nemmersdorf wurden kaum veröffentlicht; das wagte Hitler dem Volke nicht zu zeigen. ,Was ihr auch alles in den Zeitungen über Nemmersdorf lest, die Wahrheit ist noch viel schlimmer, so schrieb es damals ein Soldat von Nemmersdorf nach Hause. In den zurückeroberten Orten lag das Vieh sinnlos hingeschlachtet. Es war ein trostloser Anblick! Aller Hausrat zerschlagen, die Wohnungen verwüstet und besudelt, und die Leichen der vielen Zivilisten oft grausam entstellt. Als Rittmeister K. mit seinen Rekruten zur gesprengten Brücke an der Angerapp vordrang, da trafen sie als erstes auf eine erschossene Frau, der die Kleider vom Leibe gerissen waren. Und daneben lag ihr etwa zwei Jahre altes Kind, durch Kopfschuß getötet. In einem Raum der wenigen noch unzerstörten Häuser lagen drei Ermordete. Der mit Blut besudelte Fußboden des Zimmers zeigte deutlich, wie qualvoll der Tod gewesen war. Es gab noch schrecklichere Bilder …….

Trotz der Gefahren, die sich in diesen Oktobertagen für Ostpreußen gezeigt hatten, wurden die Truppen, die zur Verteidigung dieser östlichsten Provinz bereitstanden, nicht wesentlich verstärkt. Und Gauleiter Koch verbot sogar jede Vorbereitung für eine Evakuierung, weil er ,soIches Flüchten‘ als Verzweifeln am deutschen Endsieg‘ ansah  ……..

Den westlichen Verbündeten Moskaus blieb es damals wohl noch unbekannt, daß die Sowjets wahllos wüteten und in Nemmersdorf auch 40 französische Gefangene nicht befreit, sondern erschlagen hatten. Associated Press meldete am 26.10.1944: „Seit Stalingrad sind an der Ostfront nicht mehr so wahnsinnig erbitterte Kämpfe erfolgt, wie jetzt in Ostpreußen. Die härtesten Kämpfe finden im Raum von Goldap und südlich von Gumbinnen statt.“

Dem Bericht sind 2 Fotoabbildungen beigegeben: Nach dem deutschen Gegenangriff: Links ein abgeschossener sowjetischer Panzer, rechts ein erobertes 15-cm-Geschütz. Die Originale dieser Abbildungen sind sonst nirgendwo mehr aufzufinden. —


Einen wichtigen Einblick in die Vorgänge von Nemmersdorf vermittelt schließlich der Bericht von Fritz Feller aus Kaimeiswerder, in dem auch teilweise Namen der ermordeten Opfer genannt werden:

„Bericht über meine Erlebnisse beim Einbruch der Russen in den Kreis Gumbinnen und besonders über die Ereignisse in Nemmersdorf:“

„Ende September 1944 hatte die Landesbauernschaft mit den Kreisbauernführern der einzelnen Kreise Ostpreußens entgegen dem ausdrücklichen Befehl des Gauleiters einen Plan für die Räumung der östlichsten Kreise ausgearbeitet. Nach diesem Plan hatte der Kreis Gumbinnen den Kreis Gerdauen als Aufnahmekreis zugewiesen bekommen. In meiner damaligen Eigenschaft als Kreisbauernführer hatte ich mit den einzelnen Bezirks-bauernführern einen Räumungsplan mit den Abfahrtstraßen ausgearbeitet. Eine Vorbereitung der Räumung in Zusammenarbeit mit der Kreisleitung war nicht möglich, da diese strikten Befehl hatte, jede Vorarbeit einer Räumung zu verbieten. Als ich am 20. Oktober 1944 früh mit meinem Pkw nach Groß-Waltersdorf fahren wollte, standen an der Chaussee, etwa 3 km von Groß-Waltersdorf, Volkssturmmänner hinter Chausseebäumen verteilt mit je 5 Patronen in der Tasche. Ein Kradfahrer, den ich anhielt und der aus Groß-Waltersdorf herauskam, sagte mir, daß in etwa 500 m Entfernung russische Panzer anrollten. Ich habe die Panzer selbst gesehen und fuhr auf dem schnellsten Wege nach Gumbinnen zum Regierungspräsidenten. Ich traf ihn in seinem Dienstzimmer an, erklärte ihm die Lage und verlangte von ihm die sofortige Räumung der Zivilbevölkerung des Kreises Gumbinnen. Ich bekam von ihm die mündliche Erlaubnis, sie selbst durchzuführen. Sämtliche Telefonverbindungen waren durch den kurz vorher erfolgten Bombenangriff zerstört worden.

Nun fuhr ich zur Kreisbauernschaft, setzte alle greifbaren Motorfahrzeuge in Bewegung, um die einzelnen Bezirksbauernschaften zu benachrichtigen und gab folgenden Befehl heraus: „Der Kreis Gumbinnen marschiert am 21. Oktober 1944, früh 6 Uhr, auf den befohlenen Wegen nach dem Kreise Gerdauen.“ Ich selbst benachrichtigte die Bezirksbauernführer in Branden (Ischdaggen), Kanthausen (Judtschen) und Nemmersdorf. Gegen Abend kam ich auf meinem Hof an und ordnete die Vorbereitungen für den Abmarsch für den nächsten Morgen an. In der kommenden Nacht, die sehr dunkel und neblig war, hörte ich laufend Artillerie- und Maschinengewehrfeuer aus Richtung Schulzenwalde. Der Flüchtlingsstrom von Fuhrwerken und Fußgängern rollte die ganze Nacht aus den Kreisen Goldap und Stallupönen (Ebenrode) in Richtung Westen. Früh um 4 Uhr war es mir möglich, meinen Treck auf der vorgesehenen Straße Richtung Sodehnen—Gerdauen in Marsch zu setzen. Da ich jetzt auf den Abmarsch keinen Einfluß mehr hatte, fuhr ich selbst nach Gerdauen vor, um mit dem dortigen Kreisbauernführer die Einweisung der einzelnen anrollenden Gemeinden vorzubereiten. Dieses wickelte sich verhältnismäßig reibungslos ab, so daß am 21. Oktober abends der größte Teil der Bevölkerung des Kreises dort eingewiesen war.

Als ich durch Gerüchte erfuhr, daß die Russen bei Nemmersdorf zurückgeschlagen sein sollten, fuhr ich am 22. Oktober über Insterburg, Kanthausen (Judtschen) nach Nemmersdorf. Hier hatte das Panzerkorps ,Hermann Göring‘ zusammen mit der Ersatzschwadron des Reiterregiments 1 aus Insterburg, die Russen über Nemmersdorf in Richtung Schulzenwalde in schweren Kämpfen zurückgeschlagen. Im Dorf Nemmersdorf selbst lagen 2 Volkssturm-Bataillone — so weit ich mich erinnern kann, eins aus Königsberg und eins aus Gumbinnen. —

Von diesen Volkssturmmännern und einzelnen Bewohnern aus Nemmersdorf und Umgebung erfuhr ich die näheren Umstände des Kampfes zwischen den Truppen und über die Greueltaten, die in Nemmersdorf und Umgebung geschehen waren. Nach ihren zuverlässigen Angaben kam russische Infanterie auf dem Wege Schulzenwalde—Wiekmünde (Norgallen), überschritt mit Teilen die Angerapp bei Reckeln in westlicher Richtung, wo sie einen unzerstörten Steg fand, den sich eine Batterie, die bei Rotenkamp stand, gebaut hatte. Diese Teile trafen in den frühen Morgenstunden die abmarschierenden Bauern in Reckeln und Schroedershof. Die Bauern wurden vom Wagen gerissen und sämtlich erschossen. Darunter befand sich auch der Bürgermeister von Nemmersdorf, Herr Grimm. Die Erschießungen fanden vor den Augen der Angehörigen statt. In Reckeln sind auch französische Kriegsgefangene erschossen worden. Ein anderer Teil Russen stieß von der Kiesstraße Wiekmünde (Norgallen)—Nemmersdorf  auf die Chaussee, die von Gumbinnen kommt und schoß dort blindlings in den Flüchtlingsstrom hinein. In Nemmersdorf selbst hatte ein Teil der Bevölkerung sich nicht rechtzeitig vor den Russen in Sicherheit bringen können und versteckte sich in Häusern, Schuppen und Chausseedurchlässen. Von diesen zurückgebliebenen Zivilpersonen und den Flüchtlingen, die aus anderen Gegenden stammten, aber gerade durch Nemmersdorf treckten, ist der größte Teil umgebracht worden, z. B. der alte Viehhändler Brosius, der Fleischermeister Kaminski mit seiner Frau und seiner Schwiegertochter mit zwei kleinen Kindern, Fräulein Aschmoneit, die gelähmt auf ihrem Sofa saß, der Invalidenrentner Wagner mit seiner Frau. Die Gemeindeschwester, eine junge Frau, wurde im Straßengraben niedergeschossen, aber nicht getötet. Ihr Mann gehörte zufällig zu der befreienden Truppe. Er fand sie selbst dort und hat sie noch retten können. —

Dies sind die Namen der Toten, die mir noch in Erinnerung geblieben sind. Der größte Teil der Toten bestand aus Flüchtlingen anderer Gemeinden. Ich habe sie selbst gesehen. Sie sind in Nemmersdorf durch den Volkssturm beigesetzt worden. In dem Keller unter dem Getreidespeicher des Gutshofs in Nemmersdorf wurden später noch zwei verstümmelte Leichen von jungen Mädchen gefunden, die nicht zu Nemmersdorf gehörten. Die Gesichter der im Kampf gefallenen Russen trugen restlos asiatische Gesichtszüge. Der Bericht des Kriegsberichterstatters, der seinerzeit durch den Wehrmachtsbericht, Presse und Rundfunk ging, war wahrheitsgemäß und objektiv gehalten. An dem Befreiungskampf um Nemmersdorf waren viele junge Söhne des Kreises Gumbinnen beteiligt. Nußbaum, den 12. Januar 1953. Fritz Feller.“

Nach der Besetzung Ostpreußens durch die Russen richteten diese in Nemmersdorf eine Kolchose ein. Hier mußte auch Frau Irretier aus Gumbinnen (Goldaper Tor) arbeiten, die nach ihrer Rückkehr folgendes berichtete:

„Meine Kinder und ich waren mit vielen anderen Einwohnern aus Gumbinnen nach Pommern evakuiert. Hier blieben wir bis nach dem Einmarsch der Russen unbehelligt. Nachdem unter russischer Verwaltung ein neuer Bürgermeister gewählt war, bestimmte er, daß die Ostpreußen wieder in ihre Heimat zurückbefördert wurden. Was uns unter anderen Umständen mit der größten Freude erfüllt hätte, brachte uns jetzt ein bedrückendes Gefühl. Was würde mit uns in der Heimat geschehen, war die bange Frage, die wir uns immer wieder stellten. Einige Transporte waren schon zusammengestellt und auch abgefahren; ich hatte immer noch gezögert und die Abfahrt aufschieben können. Dann kam jedoch der letzte Transport, und ich mußte mit.

Die Fahrt dehnte sich endlos; wir waren wohl 14 Tage und noch länger unterwegs. Für meine drei Kinder hatte ich mir Zwieback und dergl. mitgenommen, ebenso für mich ausreichende Verpflegung, so daß wir gedachten, wenigstens in dieser Beziehung geschützt zu sein. Die russische Begleitmannschaft nahm uns jedoch alles weg, so daß wir am Schluß hungerten und entkräftet in Gumbinnen ankamen. Hier wurden wir in einer Unterkunft in der Brunnenstraße zusammengepfercht. Wir hatten Hunger; man kochte uns Grütze, die in einer Wanne ausgegossen wurde. Wir hatten keine Teller, weder Messer und Gabel noch Löffel. Es gab auch kein Wasser. In dem Raum standen schmutzige Gläser herum, die sicher schon von anderen benutzt waren. Wenn wir nicht vor Entkräftung umsinken wollten, waren wir gezwungen, diese schmutzigen Gläser mit der Grütze zu füllen und hinunterzuwürgen. Auch die Kinder mußten in dieser Weise essen. Man fing nun an, uns zu verhören, und zwar immer nachts. Vorerst wurde ständig gefragt, ob man selbst oder der Mann bei der Partei war. Wenn die Frauen es ehrlich bejahten, wurden sie und die Kinder sofort ausgesondert. Was mit ihnen geschah, wissen wir nicht. Wir haben sie nicht wiedergesehen.

Nach einigem Hin und Her wurden wir nach Nemmersdorf gebracht und mußten auf der Kolchose arbeiten. Die Arbeit war schwer, von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang. Das Essen war sehr schlecht. Hier ist auch mein kleinster Junge an den Folgen der schlechten Ernährung gestorben. Die Sterblichkeit war überhaupt groß. Erst im Jahre 1948 wurden die Lebensbedingungen etwas besser, blieben jedoch noch immer schlecht genug. Weitere Kolchosen gab es noch in Stannaitschen und Brakupönen (Roßlinde). Hier ist Frau Räder, geb. Krajewski, gestorben. Ihre beiden Kinderchen wurden nach der Kolchose Nemmersdorf gebracht und hier sind auch beide gestorben. Kurz bevor wir nach dem Westen kamen, brachte man russische Zivilarbeiter nach Nemmersdorf. Wir, die wir schon viel gesehen und erlebt hatten, was russische Kultur betraf, waren doch noch verwundert über das, was aus dem inneren Rußland zu uns kam. Die Füße der Leute waren mit Lumpen umwickelt, bei den Männern hingen die Haare ungeschnitten und natürlich entsprechend verlaust über die Schulter. Die Kleidung war auch entsprechend. Wir schauderten. Zwar sahen wir auch abgerissen und elend aus, aber es trennte uns doch noch eine große Kluft von dieser Ausrüstung. Dabei kamen sie ja als freie Arbeiter aus ihrem siegreichen Vaterland, hatten also die Möglichkeit, alles das mitzubringen, was ihnen gehörte. Als für uns die Erlösungsstunde schlug, daß wir nach dem Westen durften, freuten wir uns über die Maßen, der Fronarbeit entronnen zu sein. Und nun sitzen wir hier im Westen. Wenn wir an die harte Zeit in der Heimat zurückdenken, wir wollen sie nicht noch einmal erleben. Aber — es ist die Heimat. Das Bittere verwischt sich, es bleibt nur immer das Andenken an das Zuhause. Und dort sind unsere Gedanken bei Tag und bei Nacht.“


Der Schüler Karl Feller, der im Januar 1945 zwölf Jahre alt war, Sohn des Gutsbesitzers Fritz Feller aus Kaimeiswerder, Kr. Gumbinnen, erlebte von 1945 bis 1948 mit seinen Großeltern (Herrn und Frau Gutsbesitzer Meyer – Nemmersdorf) die Russenbesetzung in Ostpreußen, und erteilte später folgenden Bericht (27. 2. 1953):   

„Meine Erlebnisse vom 19. Januar 1945 bis 3. Mai 1948″:  

Unser Abmarsch von Schildeck, Kr. Osterode (wohin ihn sein Vater noch gebracht hatte) gestaltete sich so, daß nachdem die meisten Leute auf Autos selbständig fortgefahren waren, Opa das Coupee, ich den Landauer und Schwelnus, Drewanowski und Fritz Schawaller je einen Wagen fuhren. Im Morgengrauen des Sonntags waren wir erst bis Groeben gekommen. Unter großen Schwierigkeiten, bei Flieger- und Panzerbeschuß in Osterode, gelangten wir am Dienstag früh in die Gegend von Liebemühl. In Liebemühl selbst wurde gekämpft. Weil es vorn nicht mehr weiterging, machten wir kehrt und fuhren in einen Wald. Opas Wagen war in tiefen Schnee geraten und blieb stecken. Oma stieg dann aus meinem Landauer aus und ging zu Opa zurück, weil sie sagte, wo Opa ist, da bleibe ich auch. Ich selbst fuhr mit meinem Landauer in den Wald. Da ich nun ganz allein war und die Pferde vor Mattigkeit nicht mehr weiterzwangen, ließ ich meinen Landauer stehen und suchte Stutzke auf. Mit ihm zusammen fuhr ich nach Jonasdorf. (Dort waren dann anscheinend schon die Russen, worüber in dem Bericht nichts gesagt wird: Anm. Grenz!). Dort wurde ich zweimal zum Viehtreiben nach Polen und Hohenstein eingesetzt. Ich kam jedesmal gesund zurück. Von Jonasdorf sind wir nach Nasteiken gezogen, weil dort die Verpflegungsmöglichkeiten besser waren. Ich selbst habe dort beim Dreschen geholfen, indem ich Kohlen und Wasser fuhr. Nach etwa einem Monat kamen Opa und Oma mich besuchen. Sie holten sich Lebensmittel und gaben Stutzkes dafür Porzellan und Waschpulver.

Als der Krieg am 8. Mai zu Ende war, ging ich selbständig nach Osterode zu Opa und Oma. In Osterode habe ich im Krankenhaus geholfen, indem ich Heilkräuter sammelte. Da Opa annahm, daß ein Teil seiner Kinder und Enkel in Nemmersdorf sein würden, faßte er den Entschluß, mit Oma und mir nach Nemmersdorf zu gehen. Da der Abtransport mit der Bahn zu schwierig erschien, entschlossen sich Oma und Opa zu einem Fußmarsch mit einem Handwagen. Uns schlossen sich an: Seraphim, Fouquee (Groß-Pruschillen), Lange (Klein-Pruschillen) und Kochs Schwager. Im ganzen waren wir eine Kolonne von 5 bis Handwagen. Ende Juni sind wir von Osterode losgegangen. Wir gingen nördlich Allensteins vorbei über Seeburg, Guttstadt, Gerdauen und Nordenburg, wo uns die Russen festhielten. Nach 3 oder 4 Tagen gingen wir davon und gelangten über Gudellen und Darkehmen nach Nemmersdorf. Der ganze Marsch dauerte etwa 14 Tage. Wir legten im Durchschnitt 20 km täglich zurück. Opa und ich zogen den Wagen und Oma ging hinten nach. Wir hatten 2 Betten, die Pelze und eine Kiste mit Lebensmitteln aufgeladen. Wir lebten von Vorräten, die wir uns aus Osterode mitgebracht hatten. Aus dem Umkreis von Osterode hatten wir nämlich von den Bauerngehöften Getreide geholt, es ausgeklopft und die Körner zu Brot verarbeitet.

In Nemmersdorf meldeten wir uns beim Bürgermeister Dibse, der uns das alte Schlafzimmer in Omas Haus als Wohnung zuwies. Nach etwa 7 Tagen wurde Opa durch russische Polizei verhaftet, da er von Deutschen denunziert worden war. Man transportierte ihn nach Darkehmen, wo er sich durch Kartoffelschalen an einer Feldküche einigermaßen erhalten konnte. Schlechter erging es ihm in Goldap. Dort wurde er oft nachts herausgeholt, verhört und geschlagen. Im Oktober kam Opa aus Goldap körperlich gebrochen zurück. Der Bürgermeister stellte uns Mehl und Grütze zur Verfügung.

Ende November wurde Oma schwerkrank, anscheinend Erkältung. Am 1. Dezember legte sie sich ins Bett, lag mehrere Tage ohne Besinnung und ist am 7. Dezember um 17.30 Uhr entschlafen. Allem Anschein nach hatte sie Lungenentzündung. Sie wurde an dem von ihr ausgesuchten Platz auf dem Gutskirchhof beigesetzt. Beim Begräbnis war außer Opa und mir Viehhändler Stein aus Gumbinnen anwesend. Opa sprach an ihrem Grab ein Gebet. Nun waren Opa und ich auf uns allein angewiesen. Opa wurde infolge der Anstrengungen und der Entkräftung auch bettlägerig. Ich habe für ihn gekocht und ihn gepflegt. Opa litt besonders an Blasenleiden und Verdauungsstörungen. Am 22. Dezember um 3 Uhr starb Opa. Wir haben ihn neben Oma beigesetzt. Beim Begräbnis waren außer mir und Herrn Stein noch andere Männer zugegen. Am Grabe haben wir ein Lied gesungen und ein Gebet gesprochen. Von den Gräbern hat man einen schönen Blick auf die Kirche. Für Opas Grab habe ich einen Tannenstrauß geholt.

Da ich nun allein war, aß ich auf Wunsch von Opa bei Familie Stein und zog Anfang Februar (1946) zu Frau Hofer ins Pfarrhaus. Dort lebte ich bis zu meinem Abtransport in das Reich zusammen mit Frl. Else Burat. Beide haben für mein Essen gesorgt, meine Wäsche in Ordnung gehalten und mich immer betreut. Mitte Januar 1946 wurde ich der Schmiede zugeteilt. Dort habe ich unter Meister Krause, der in der Maschinenfabrik in Gumbinnen tätig gewesen ist, als Schmiedelehrling gearbeitet. In der Schmiede machte ich hauptsächlich Handreichungen. Später wurde ich mit Reparaturen von Motoren und Treckern beschäftigt. Die Arbeit begann morgens, wenn die Sonne aufging und endete, wenn es dunkel wurde. Mittags gab es eine Stunde Pause, Frühstück und Vesper gar nicht. Im Sommer haben wir gar keinen Sonntag feiern können, ebenso wenig gab es Weihnachten und Ostern Feiertage. Wir hatten weder Arzt noch Apotheke, noch Krankenschwester, weder Pfarrer noch Gottesdienst, weder Schule noch Lehrer. Jede soziale Betreuung fehlte. Bis Sommer 1946 bestand unsere Löhnung in Naturalien: Mehl, Grütze und etwas Zucker. Frischfleisch gab es überhaupt nicht. Eier und Schmalz sind ebenfalls nie geliefert worden. In der ersten Zeit wurde Fleisch von kranken Tieren ausgegeben. Später wurde dies verboten. Seit Sommer 1946 wurden wir mit Geld (Rubel) gelöhnt. Ich verdiente im Anfang etwa 100 Rubel und konnte später meinen Verdienst auf etwa 300 Rubel steigern, weil ich an den Treckern als Spezialist galt. Wir konnten unser Geld zu beliebigem Ankauf von Lebensmitteln verwenden, mußten uns aber auf Brot, Mehl und Kartoffeln beschränken, da dieses am meisten satt machte. Ein Kilogramm Butter kostete 60 Rubel, daher war es uns nicht möglich, welche zu kaufen. Außerdem war die Qualität so schlecht, daß wir uns besser standen, wenn wir uns Brot kauften. Frau Hofer arbeitete in einer Offizierswohnung und verdiente so ihr Essen. Wenn ich mittags nach Hause kam, habe ich mir oft mein Essen selbst gekocht, wenn Frau Hofer und Else aus der Arbeit noch nicht zurück waren. Unser gewöhnliches Essen bestand aus Mehl, Wasser und etwas Salz. Morgens haben wir uns auch eine Mehlsuppe gekocht. Dazu gab es trocknes Brot mit Kaffee. Wenn wir etwas Besonderes zur Verfügung hatten, Kartoffeln oder etwas Zucker, dann haben wir uns dieses nach Feierabend zubereitet, da wir sonst keine Zeit dazu hatten. Wir konnten kein Stück Brot zum Frühstück oder Vesper mit aufs Feld nehmen, da wir dann nicht ausgekommen wären.

Im Laufe des Jahres 1945 war eine lange Typhusepidemie. An Typhus und Hunger sind in Nemmersdorf etwa 200 Menschen gestorben, darunter Herr Krög, beide Töchter von Frau Hofer und der Maschinenfabrikant Schweighöfer mit seiner Frau. Die Väter fehlten meist in den Familien. Wenn eine Frau starb, wurden die Kinder in das Waisenhaus eingewiesen. Ich selbst hatte auch Typhus mit Rückfall. Oma pflegte mich.

Im Jahre 1948 verbreitete sich bei uns das Gerücht, daß alle Deutschen nach dem Reich kommen sollten. Wir hörten von den Abtransporten aus Königsberg. Am 30. März abends wurde uns durch die russische Polizei der Befehl gegeben, uns für den Abtransport fertig zu machen. Eine Woche vorher war meine Pflegemutter, Frau Hofer, plötzlich gestorben. Sie hatte Herzbeschwerden und lag eine Woche im Bett. Als ich mittags nach Hause kam, war sie gestorben. Sie wurde auf dem Dorfkirchhof begraben. Viele Blumen und Kränze schmückten ihr Grab. Fast alle Deutschen waren zum Begräbnis gekommen. Herr Lesdat hielt die Grabrede. Wir sangen mehrere Lieder.

Am 1. April 1948 früh waren wir mit unseren geringen Habseligkeiten am Roten Krug versammelt; dort fanden wir sämtliche Deutschen, mit geringen Ausnahmen, die von den Russen zurückgehalten wurden, versammelt. Es handelte sich hierbei um die Deutschen folgender Dörfer: Nemmersdorf, Gerwischken, Stobricken, Girnehlen, Austinehlen, Groß-Pruschillen, Kollatischken, Reckeln und Pennacken. Kinder, Kranke, Alte und das Gepäck wurden bis Gumbinnen gefahren. Die anderen gingen zu Fuß bis Gumbinnen. Dort wurden wir von der Militärrampe in 9 Waggons eingeladen und fuhren am 2. April abends ab. Am 3. April 1948 erreichten wir Königsberg. Dort wurden wir von der Breitspurbahn auf die Schmalspurbahn umgeladen. Vom russischen Bargeld durften wir uns Lebensmittel kaufen. An der Sperre wurden wir einer eingehenden Untersuchung unterzogen. Bargeld mit Wertsachen wurden abgenommen. Am 4. April abends fuhren wir vom Königsberger Güterbahnhof ab. Wir fuhren über Korschen, Thorn, Posen, Schneidemühl, Küstrin (hier passierten wir die neue polnische Grenze), Eberswalde bis Pasewalk. Dort hatte ich die erste Möglichkeit, an meine Eltern eine Karte zu schreiben. Wir verpflegten uns auf der Fahrt selbst. Zu unserem Transport gehörten etwa 2000 Personen. Fast alle wurden an Adressen in der russischen Zone verteilt.

Einen Tag nach unserer Ankunft in Pasewalk am 8. April fuhren wir weiter nach Suhl. Am 24. April verließ ich das Lager in Suhl, um nach Anweisung meiner Eltern nach Halberstadt zu fahren. Von Onkel Karl und Tante Anny wurde ich liebevoll aufgenommen und eingekleidet. Hier habe ich mich zum ersten Mal nach langer Zeit richtig satt gegessen und ausgeschlafen. Ich fühlte mich schon wie zu Hause. Am 1. Mai kam eine Transportschwester vom Roten Kreuz aus Hamburg und holte mich ab. Wir fuhren im Interzonenzug bis Hannover und kamen über Hamburg und Kiel nach Darry. Am 3. Mai abends traf ich in Darry bei meinen Eltern ein. —

Nun zu den Verhältnissen in Nemmersdorf: In Nemmersdorf stehen: Die Kirche (in sehr baufälligem Zustand), da Balken ausgesägt sind. Innen ist alles leer. Es steht die Schule, die als russische Schule benutzt wird, das Pfarrhaus mit Stall, der halb zusammengebrochen ist, der Hof von Rothgenger, Opas Meierei, Viehstall, Pferdestall und Speicher, vom Doktorgehöft nur der Stall.

In Kaimelswerder  stehen:  Kuhstall,  ein  halbes  Leutehaus und Leutestall.

In Pennacken steht alles bis auf die Feldscheune. Von Grimms Hof sind Wohnhaus, Leutehaus und ein Stall übriggeblieben.

Die Angerappbrücke nach Gumbinnen war von den Russen provisorisch hergestellt worden, wurde aber beim Eisgang abgerissen und nicht wieder aufgebaut.

Der Verkehr nach Gumbinnen geht jetzt über Tittnaggen. Sämtliche Straßen sind in sehr schlechtem Zustande.

Von den Feldern liegen 2/3 brach. Angebaut werden nur Roggen, Hafer, Gerste, Kartoffeln und Kohl. Ganz geringe Erträge werden beim Anbau von Tomaten und Gurken erzielt. Die Obstbäume sind zum größten Teil abgeholzt, und die Beerensträucher sind überwuchert, so daß sie nichts tragen.

Wenn Brennholz gebraucht wird, werden Holzgebäude abgebrochen und verbrannt.

Sämtliche Überlandleitungen sind abgerissen; die Transformatorenhäuser vernichtet. Wir stellten im Winter eine Beleuchtung aus Traktorenbrennstoff in kleinen selbstgemachten Lämpchen her.

Pferde und Vieh werden in schlechtem Zustand gehalten. Die meisten kommen um. Zum Beispiel kamen im Frühjahr 1947 125 Pferde zum Ersatz, von denen im nächsten Frühjahr nur noch 28 am Leben waren.

Für die Sowchose Nemmersdorf, die den Bezirk von Nemmersdorf, Stobricken, Adomlauken, Tittnaggen, Gerwischken, Wandlaudszen, Reckein und Tutteln umfaßte, standen etwa 9 Trecker zur Verfügung.

Das Getreide wurde in Haufen auf den Feldern zusammengefahren und sofort ausgedroschen.

An Maschinen standen nur Grasmäher und Ableger zur Verfügung.

Das Rehwild ist vernichtet. Hasen, Fasanen und Rebhühner sieht man noch. Viele Füchse treiben sich auf den Feldern herum. Wölfe sind im Kreise Gumbinnen auch gesehen worden. Hühner und Schweine besaß niemand außer dem Kommandanten. Von Vierhufen steht nur noch der Pferdestall, der in der Mitte zusammengebrochen ist.

Der Oberstanner Hof steht bis auf die Scheune. Der Unterstanner Hof steht meiner Ansicht nach, da ich ein Dach gesehen habe.

Unsere Post mußte von Gumbinnen geholt werden und nach Gumbinnen gebracht werden. —

Beim ersten Zusammentreffen mit den Russen bei Liebemühl verloren Opa und Oma alles, sogar ihre Trauringe wurden ihnen von den Russen abgenommen. Oma bekam ihre Ringe zurück, da sie allen Russen zu klein waren. Später hat Oma sie als Knopf zusammengenäht an ihrem Kleid getragen. Ich habe sie bis hierher in den Westen retten können. Diese Zustände, wie ich sie geschildert habe, herrschen fast im ganzen nördlichen Teil Ostpreußens. —


Schließlich verfügen wir noch über einen umfangreichen Bericht von Ernst Wegner (früher wohnhaft in Gumbinnen, Meelbeckstr. 30), der von seinem Fluchtort in Mecklenburg nach Gumbinnen zurückmußte. Er verlebte die Jahre von 1945 bis 1948 in der Sowchose zu Nemmersdorf.

Der Bericht wurde im März 1950 abgefaßt, und trägt den Titel: „Erlebnisse während meiner dreijährigen russischen Gefangenschaft auf der Sowchose Nemmersdorf von 1945—1948″.

Bevor ich über meine Erlebnisse in der Gefangenschaft berichte, möchte ich hier noch kurz meine Abreise von Gumbinnen bis zur Ankunft im Städtchen Barth (Pommern) schildern.

Nachdem der Russe am 16.10.1944 den planmäßig vorbereiteten Luftangriff auf unsere Heimatstadt Gumbinnen durchgeführt hatte, versahen wir unsern Dienst beim Wehrbezirkskommando pflichtgemäß auch weiterhin bis zum 22.10.1944. Gegen Mittag kreisten russische Flugzeuge über Gumbinnen, die Front kam näher. Es kam auch der Befehl zum Abrücken. Schnell wurde noch von Hause das wichtigste Gepäck geholt und auf bereitstehenden Lkws ging die Fahrt mit dem gesamten Kommando in Richtung Insterburg bis nach Groß-Plauen bei Allenburg im Kreise Wehlau. Dort hatten wir unseren Dienstbetrieb mit den W. M. Aem. Gumbinnen, Insterburg und Ebenrode (Stallupönen) wieder notdürftig neu aufgebaut und arbeiteten weiter. Hier feierten wir auch das Weihnachtsfest — diesmal ohne Familie. Wochen vergingen, ohne zu ahnen, daß wir auch hier bald das Feld würden räumen müssen. Der Russe hatte bei Taplacken (Kr. Wehlau) unsere Front durchbrochen und stieß mit seinen Panzern durch Wehlau in Richtung Allenburg vor. Alles kam so überraschend, daß wir noch des nachts unser Privatgepäck nur zum Teil zusammenraffen konnten und überstürzt in Pkw’s nach Königsberg abfuhren. Der größte Teil des Gepäcks, das wegen Platzmangel in den Pkw’s nicht mitgenommen werden konnte, fiel den Russen in die Hände. 

Kurzer Aufenthalt in Königsberg: In Königsberg bezogen wir bei unserer Ankunft in den frühen Morgenstunden des 24.1.1945 Quartier in der Trommelplatzkaserne gegenüber dem Nordbahnhof. Dieser Stadtteil sollte auf  Befehl von Gauleiter Koch unbedingt gehalten werden. Doch auch hier sollten wir uns nicht lange aufhalten dürfen.

Der Russe rückte mit starken Panzereinheiten unaufhaltsam weiter bis kurz vor Königsberg und sandte uns am Morgen des 28.1.1945 den ersten Sonntagsgruß in Gestalt einer Salve schwerer Geschosse, die alle in der Nähe des Nordbahnhofs ihr Ziel erreichten und hier einschlugen. Wieder mußten wir unsere letzten Habseligkeiten zusammenpacken und uns mit dem weiblichen Personal der Dienststellen eiligst zum Abtransport auf dem Seewege zum Hafen begeben. Die Fahrt ging des Nachts in größeren Kähnen und in eisiger Kälte bis Pillau. Wer hier mitkam, war einstweilen geborgen, denn schon beim Besteigen der Planken zu den Kähnen war der Stärkste der Beste, und so passierte es, daß Frauen mit ihren Kindern hierbei ins eiskalte Wasser fielen und verschwanden. Jeder war sich selbst der Nächste. Eine Absperrung war nicht vorhanden, hätte auch wenig nützen können.

In Pillau klappte die Übernahme der angekommenen Flüchtlinge auf vor Anker liegende größere Schiffe der Kriegsmarine musterhaft, da die Matrosen nun die Verteilung der Passagiere überwachten und ihnen die Plätze anwiesen. Auf dem Kriegsschiff wurden wir von der Marine mit warmem Essen, Brot, Butter und Wurst während der ganzen Fahrt gut verpflegt. —

Die Abfahrt von Pillau und abenteuerliche Fahrt auf hoher See bis Saßnitz auf der Insel Rügen: Am nächsten Tage ging unser Schiff mit 2500 Flüchtlingen an Bord in See. Die Sonne lachte, aber es wehte ein kalter Wind. Gegen Abend änderte sich das Wetter und brachte uns bei Windstärke 9 in eine gefährliche Lage, da sich durch den Sturm zahlreiche Minen losgerissen hatten und abgetrieben waren. Unser Schiff fuhr mit äußerster Vorsicht und wurde von den hohen Wellen wie eine Nußschale hin- und hergeworfen. Etwa 90 Prozent der Fahrgäste lagen seekrank auf Deck und auf den Schiffstreppen umher. Es war kein schöner Anblick, wie da so viele Menschen sich am Boden wälzten und sich übergeben mußten.

In Gotenhafen wurde am frühen Morgen angelegt, das Schiff von den Spuren der unheilvollen Nacht gründlich gereinigt. Dann gab es heißen Kaffee zur Stärkung und Erholung von den überstandenen Strapazen. Nachdem unser Schiff Kohlen und frisches Trinkwasser übernommen hatte, ging es am nächsten Tage gegen Abend wieder in See. Die Fahrt ging einige Stunden gut, als wir dann plötzlich durch starkes Gerassel an den Schiffswänden — wie Donner bei einem Gewitter — aus dem Schlaf geweckt wurden. Die Lichtanlage war durch diese Erschütterung beschädigt worden und verdunkelte den gesamten Schiffsinnenraum. Die Matrosen rannten mit ihren Sturmlaternen hin und her, um die Ursache dieses Schadens festzustellen. Wie ich dann später im Verlauf eines Gesprächs mit einem Maat erfuhr, hatten wir eine treibende Mine nur seitwärts gestreift und waren so vor einem großen Unglück bewahrt geblieben.

In dieser verhängnisvollen Nacht wurde auch das Passagierschiff „Wilhelm Gustloff“ mit 2000 Verwundeten und 4000 Flüchtlingen an Bord von einem russischen U-Boot in völkerrechtswidriger Weise torpediert.

Um bei uns nicht eine Panik aufkommen zu lassen, war von der Schiffsleitung hiervon strengstens Stillschweigen befohlen worden. So landeten wir endlich am Morgen des 6.2.1945 in Saßnitz auf der Insel Rügen. Von hier aus ging die Fahrt mit der Bahn landeinwärts bis Barth an der Ostsee. Am Bahnhof erwarteten uns eingesetzte Helfer und Helferinnen und führten uns in größere Notquartiere, um dann am nächsten Tage in Privatquartieren untergebracht zu werden. Ich bekam ein gutes Bürgerquartier bei einem älteren Malermeister und habe hier volle 3 Monate gelebt.

Am 2.5.1945 rückten dann die ersten russischen Panzer mit anderen Kampfverbänden in Barth ein, und kurze Zeit darauf begannen schon die ersten Überfälle auf offener Straße. Passanten wurden von diesen Straßenräubern angehalten und mußten die Uhren, Ringe und dergl. hingeben. Als die Bevölkerung sich daraufhin in ihren Wohnungen verborgen hielt, drang diese zügellose Soldateska in die Häuser und setzte hier in brutaler Weise ihre Beraubung oft mit vorgehaltener Maschinenpistole fort. Jüngere Frauen wurden von diesen Wüstlingen, nachdem sie diese geängstigten Menschen ausgeplündert hatten, obendrein noch in schamloser Weise vergewaltigt. Geschäfte wurden vom Pöbel, darunter vielen Polen, unter dem Schutz russischer Soldaten geplündert, Schaufenster eingeschlagen, und die hierin ausgestellten Waren auf bereitstehenden Wagen fortgeschafft. Anschließend wurden meistens noch die Wohnräume der Geschäftsinhaber nach Uhren, Schmucksachen und dergl. durchwühlt und ausgeraubt. Es waren Schreckenstage, die wir bei dem Durchzug dieser asiatischen Horden erdulden mußten. Die Lebensmittelgeschäfte waren geplündert und die Läden vollkommen ausgeräumt. In den ersten Tagen der vorangegangenen Plünderungen bekam man auf seine Lebensmittelkarten nichts zu kaufen, bis dann wieder neue Ware zur Versorgung der Bevölkerung herangeschafft wurde.

Die Ernährungslage war durch den anhaltenden Zustrom neuer Flüchtlinge aus Pommern und den vielen Ostflüchtlingen immer bedrohlicher geworden. Die Bäckereien konnten dem täglichen Bedarf an Brot nicht mehr gerecht werden, und es drohten neue Hungerrevolten auszubrechen. Nun entschloß sich der russische Kommandant, die gesamten Ostflüchtlinge innerhalb von 3 Tagen wieder nach dem Osten abzuschieben. Ausgehängte große Plakate verkündeten, daß jeder Ostpreuße, der vor 1939 dort seinen festen Wohnsitz gehabt hat, zwecks Registrierung und Ausstellung eines Rückfahrscheins unverzüglich auf dem Rathaus zu erscheinen habe. Andernfalls würden die Lebensmittelkarten an die Ostflüchtlinge nicht mehr ausgegeben. Nun war guter Rat teuer. Wir waren von nun an dem Russen ausgeliefert. Zum Abtransport standen im Hafen schon mehrere Schleppkähne für diese Fahrt ins Ungewisse bereit. —

Abschied und Abfahrt von Barth: Am dritten Tage hatten wir uns also befehlsgemäß mit unserem Reisegepäck und Verpflegung für ein paar Tage am Hafen einzufinden. Polizei und russische Soldaten überwachten und regelten einen reibungslosen Verlauf bei der Einschiffung dieser Rückwanderer in die ehemalige Heimat. Als nun die Schiffe voll belegt und jeder seinen Platz eingenommen hatte, lösten sich die Taue von der Mole und mit Dankesworten und Tücherschwenken verabschiedeten wir uns — mancher unserer Landsleute für immer — von der zahlreich erschienenen Barther Bevölkerung. —

Die Fahrt ging über Stralsund bis Stettin. Diese schöne Seestadt hatte durch wiederholte Luftangriffe auch schwer gelitten und war fast menschenleer. Nur russische Posten waren an den Straßenecken sichtbar und kontrollierten unsere Ausweise. Die Oder-Brücken waren alle zerstört, und so mußten wir uns, um von hier aus überhaupt weiterzukommen, zu Fuß mit unserm Gepäck bis zur nächsten Eisenbahnstation Scheune begeben. Von hier aus konnte man nun einen beliebigen Materialzug benutzen, um etappenweise sein Reiseziel zu erreichen. Solch eine Fahrt auf beladenem, offenem Materialzug war mit Hindernissen verbunden und brachte uns viele unfreiwillige und unfreundliche Aufenthalte. Wenn solch ein Zug auf einer Station hielt, wurde man zu Aufräumungsarbeiten von unseren Wagen heruntergeholt und durfte erst seine Weiterreise fortsetzen, wenn diese Arbeiten verrichtet waren. Als Entschädigung bekamen wir für diese Arbeiten ab und zu mal Pellkartoffeln mit Salz. Nicht unerwähnt lassen möchte ich hierbei die räuberischen Überfälle während dieser vierzehntägigen abenteuerlichen Fahrt. Jugendliche Banditen begleiteten rudelweise diese Züge und fielen des Nachts wie schleichende Raubtierte über die schlafenden Menschen her und raubten diesen oft ihre letzten Habseligkeiten mit dem letzten Stückchen Brot. Das russische Begleitpersonal duldete diese fortgesetzten organisierten Überfälle und schritt trotz lauter Hilferufe hiergegen nicht ein. So vergingen bange 14 Tage, bis ich dann endlich am 13.6.1945 auf meinem Heimatbahnhof Gumbinnen angelangt war. —

Ankunft in Gumbinnen und Abtransport nach dem Arbeitslager der Sowchose 26 Nemmersdorf:

Der 13.06.1945 war ein klarer Sommertag, der mich wieder in meine Heimatstadt zurückgeführt hatte. Diesmal jedoch unter anderen Umständen. Der Bahnsteig war vollkommen menschenleer, nur russische Posten gingen auf und ab und bewachten den angekommenen Beutezug, mit den geraubten landwirtschaftlichen Maschinen und sonstigem Stückgut. Es war ein wehmütiges Gefühl bei diesem seltsamen Anblick. Wie hatte sich doch die Zeit geändert; sonst wurde ich bei jedesmaliger Ankunft auf diesem Bahnsteig von meiner Frau oder Tochter mit freundlichem Gesicht und warmem Händedruck begrüßt, diesmal empfing mich ein russischer Posten mit umgehängter Maschinenpistole mit den Worten: „Komm Kamrad, dawai!“

Im Bahnhofsgebäude standen schon einige mir unbekannte Schicksalsgenossen und warteten hier auf den Abmarsch zur Kommandantur in der Brunnenstraße im Hause des Tischlermeisters Thies. Hier wurden unsere Reisepapiere geprüft, die weiteren Personalien festgestellt, und wir wurden einem eingehenden Verhör unterzogen. Ob Kapitalist, bei der Partei, SA oder SS. Wer besonders verdächtig schien, wurde ausgesondert und in einem Nebenraum untergebracht und hier ständig bewacht. Wir anderen wurden nach Erledigung dieser Formalitäten in leerstehende Stuben ohne Stühle und Tische im Hofgebäude dieses Grundstücks einquartiert. Am Abend gab es noch eine warme Mehlsuppe ohne Brot und dann machten wir unser Nachtlager auf dem gedielten Fußboden zurecht, den Rucksack als Kopfpolster und wer noch eine Schlafdecke besaß, war glücklich, seine müden Glieder hierin einzuhüllen.

Am frühen Morgen kam der Befehl: „Alles fertig machen zum Abtransport nach Nemmersdorf.“ Die Gesunden zu Fuß und für die Alten und Kranken stand ein Fuhrwerk bereit. Dieser Gefangenentransport bestand aus etwa 30 Personen (Männern, Frauen und Kindern) und wurde von einem Posten nach dort begleitet. Der Marsch ging über Annahof — Kuttkuhnen — Gerwischken. Hier möchte ich gleich berichten, was ich auf diesem Schicksalsweg erlebt und gesehen habe.

Die Gebäude und Grundstücke von Didt bis zum Bahnübergang waren zu beiden Seiten der Straße stark beschädigt. In Kuttkuhnen ist die Gastwirtschaft Haase zerstört, ebenso einige kleinere Häuser ausgebrannt. Die Bahnhöfe Stulgen und Norgallen sind in Trümmerhaufen verwandelt. Wir nähern uns Gerwischken. Hier liegen die neuen Siedlungen in Schutt, das Gut selbst hat weniger Schaden erlitten, nur der Speicher mit Silo ist vernichtet. Hier wohnten bis 1948 deutsche Landsleute und haben Sklavendienste verrichtet. Das weiter entfernt gelegene Gutshaus Herrmann ist vollständig zerstört und später auch die große Scheune für andere Zwecke von den Russen abgebrochen worden  …..

Wir kommen zum Dorfeingang von Nemmersdorf:

Die Betonbrücke ist gesprengt und durch eine Notbrücke ergänzt worden, die bei Hochwasser meistens fortgespült wurde. Auf der anderen Seite des Flusses liegt vor uns der alte Dorffriedhof, von dem sämtliche Grabgitter von den Russen für andere Zwecke entfernt worden sind. Dahinter befindet sich die letzte Ruhestätte der ermordeten 25 Opfer, die beim ersten Vorstoß der Russen in Nemmersdorf in bestialischer Weise umgebracht wurden. Die Kirche hat am Turm und Dach Artillerietreffer erhalten. Der „Weiße Krug“ des Kaufmanns Woweries ist ein wahrer Schutthaufen, der „Rote Krug“ ist nur am Dach beschädigt, und in den unteren Räumen befindet sich eine Tischlerei und ein großes Magazin (Lebensmittelgeschäft). Der Gutshof Mayer ist einigermaßen erhalten, nur zwei große Ställe sind zerstört worden, das ehemalige Postgebäude und die Dampfmühle Zindler sind stark beschädigt. Das jüdische Manufakturwarengeschäft ist ein großer Schutthaufen. Die Fleischerei Gruber ist unbeschädigt, und in den gesamten Räumen befindet sich die Kommandantur. Die Schule ist gut erhalten und wird von den russischen Schulkindern aus der ganzen Umgebung besucht. Die Dampfbäckerei ist erhalten geblieben und von den Russen wieder in Betrieb genommen. Die beiden neuen Wohnhäuser an der Wegkreuzung nach Sodehnen sind unversehrt und von Russenfamilien bewohnt. Die beiden Güter von Grimm und Rothgänger sind gut erhalten und auf dem Rothgängerschen Gutshof ist eine ostpreußische Viehherde eingestellt.

Wenn wir nun nach Wandlaudszen kommen, bietet sich dem Auge ein trostloser Anblick. Das ganze Dorf ist ein großes Trümmerfeld. Weiter links der Chaussee liegt das große Gut Kieselkehmen, das unversehrt geblieben ist und von den Russen als Spritbrennerei weiter ausgebaut wurde. Die Wassermühle Kissehlen ist von den Russen ebenfalls in Betrieb genommen und läuft auf Hochtouren. Wir begeben uns nun zurück auf die Kiesstraße nach Sodehnen. Die neuen Siedlungen rechts der Straße sind nur noch Schutthaufen. Weiter führt uns der Weg nach Kaimelswerder, wo ebenfalls das Gutshaus, der Speicher und ein großer massiver Stall vernichtet sind, dagegen sind die Insthäuser erhalten geblieben. Die Straße führt uns weiter nach Austinehlen, wo nur die Insthäuser erhalten sind. Von hier aus kommen wir nun nach Budballen, auch hier ist das Gutshaus zerstört, nur der große massive Stall und die beiden Insthäuser sind von Zivilrussen bewohnt. —

Kurz will ich noch über den Straßenzustand und die Ortschaften an der Insterburger Chaussee berichten.

Das früher beliebte Ausflugslokal „Schönort“ ist total ausgebrannt. In der Ortschaft Stannaitschen wohnen jetzt nur Zivilrussen. Dieses Dorf ist verhältnismäßig gut erhalten geblieben. In dem Schulgebäude ist die Kommandantur tätig, und es herrscht in Stannaitschen ein reger Durchgangsverkehr. Ich begebe mich weiter nach Branden (Ischdaggen), um auch von hier einen Eindruck zu bekommen. Das Gut am Eingang des Dorfes ist nur zum Teil beschädigt, ebenso die Kirche. Das Gasthaus Perlbach ist vollkommen zerstört, ebenso hat auch die Mühle von Uszkoreit schwer gelitten. Von den neuen Siedlungsbauten sind auch einige Gebäude vernichtet worden.

Der Straßenzustand von Gumbinnen nach dem umbenannten Kaliningrad (Königsberg) ist in einem unbeschreiblich heruntergewirtschafteten Zustand, da während der Kriegs- und Nachkriegsjahre keine Ausbesserungsarbeiten vorgenommen wurden. Nicht viel besser sieht die Chaussee von Gumbinnen nach Darkehmen aus. Bei unserer Ankunft am 14. Juni 1945 in Nemmersdorf kam mir voll zum Bewußtsein, wohin mich das Schicksal geführt hat. Wir wurden von dem von den Russen eingesetzten Bürgermeister (einem Polen) empfangen, der uns nach Erledigung der üblichen Formalitäten die Unterkünfte anwies. Diese verlassenen Wohnungen befanden sich in einem fürchterlichen Zustand, verschmutzt, ohne Türen und zertrümmerte Fensterscheiben. Kein Stuhl, Tisch oder Bettgestell war vorhanden. Hier also sollten wir uns häuslich einrichten und uns das Leben erträglich gestalten. Nach und nach wurden diese Unterkünfte instandgesetzt und bewohnbar gemacht. Geschlafen haben wir in der ersten Zeit auf Strohlagern, bis dann allmählich Möbelstücke aus verlassenen Wohnungen der umliegenden Ortschaften herangeschafft und verteilt wurden. Das Essen mußten wir uns selbst machen; hierzu gab es meistens Roggenmehl und Gerstengrütze. Die übrigen Zutaten konnten wir uns denken. Durch diese einseitige Ernährungsweise mußte sich der Körper vollständig umstellen und kam hierdurch langsam in Verfall. Wer noch über einen gesunden Magen und ein gesundes Herz verfügte, hat diese plötzliche Umstellung der einseitigen Ernährung überstanden. Alte Leute und kleine Kinder konnten sich an diese Kost nicht gewöhnen, und so erkrankte einer nach dem andern zum Teil an Wassersucht, andere an Stoffwechsel- und Kreislaufstörungen mit Herzschwäche. Ärztliche Betreuung und Medikamente waren im Jahre 1945 überhaupt nicht vorhanden. Auch die sanitären Verhältnisse in dem provisorisch eingerichteten Krankenhaus waren die denkbar schlechtesten und spotteten jeder Beschreibung. Die Kranken, die hier eingeliefert wurden, legte man in ein mit Haferstroh ausgelegtes Holzbettgestell. Jeder bedeckte sich mit seinen mitgebrachten Kleidungsstücken, da Schlafdecken nicht vorhanden waren. Starb ein Kranker, so wurde dieses Stroh aus dem Bett des Toten nicht entfernt, und man legte den nächsten Kranken unbesorgt wieder hinein. Das Ungeziefer fand hier den besten Nährboden und vermehrte sich in erschreckendem Ausmaß. Abwehr-und Reinigungsmittel wie Seife gab es zur Bekämpfung dieser Plagegeister nicht. Wie nicht anders zu erwarten, brach im Spätsommer 1945 eine Typhusepidemie bei uns aus, die unter den Lagerinsassen viele Todesopfer forderte. Diese Leichen mußten ja nun auch bestattet werden, und so erhielt ich vom Bürgermeister den wenig beneidenswerten Auftrag, dafür zu sorgen, daß diese Toten so schnell wie möglich beerdigt wurden. Zwei Tischler (Otto Schmidt und Franz Braun) waren mehrere Wochen nur mit dem Anfertigen von Särgen beschäftigt. Die Bretter hierzu wurden von Scheunen abgerissen. Um meine Arbeit beginnen zu können, suchte ich mir 4 unerschrockene Männer, die mich bei den ständigen Leichenbestattungen in anerkennenswerter Weise tatkräftig unterstützten. Es gehört schon eine gute Natur und Energie dazu, um eine solche nicht beneidenswerte Arbeit überhaupt ausführen zu können. Als Leichenwagen diente uns ein großer Handwagen. Im Lager wurden wir ironisch als die Männer vom Himmelfahrtskommando bezeichnet. Etwa 250 Tote habe ich mit meinen Männern eingesargt und mit unserm kleinen Leichenwagen zum Friedhof gezogen. Dort haben unsere Toten in ostpreußischer Heimaterde unter uralten Eichenbäumen des Gutsfriedhofes ihre letzte Ruhestätte gefunden.

Der unerbittliche Tod hatte im Lager unter den Leidensgenossen große Lücken gerissen. Die noch verbliebenen wenigen Arbeitskräfte reichten nicht aus, um die umfangreichen Arbeiten dieses großen Gutsbetriebes bewältigen zu können. Diese entstandene Lücke mußte durch neue Arbeitskräfte ausgeglichen werden. Im Frühjahr 1946 trafen dann die angekündigten neuen Leidensgenossen in mehreren Lastkraftwagen aus dem Großen Moosbruch (im Kreise Labiau) im Lager Nemmersdorf ein. Diese in Arbeit stehenden Menschen erhielten dort den Befehl, sich innerhalb von 2 Stunden mit dem notwendigsten Gepäck zur Abreise in eine unbekannte Gegend bereit zu halten. Vieh, Geflügel und dergl. mußte für die eingetroffenen Zivilrussen zurückgelassen werden.

Zu meiner bisherigen Beschäftigung erhielt ich zusätzlich noch einen neuen Auftrag, und zwar die Betreuung der jetzt eingetroffenen Moosbrucher Landsleute zu übernehmen, die Menschen möglichst schnell in neu instandgesetzten Unterkünften der beiden noch unbewohnten Güter Grimm und Rothgänger unterzubringen. Türen und Fenster waren auch hier nicht vorhanden. Aber es mußte in kürzester Zeit Abhilfe geschaffen werden, damit diese verschleppten Volksgenossen so schnell wie möglich zur Arbeit herangezogen werden konnten. Wer nicht arbeiten konnte, erhielt vom Russen keine Verpflegung. Alte Leute waren dem Hungertode preisgegeben, wenn diese nicht junge Familienangehörige zur Arbeit stellen konnten. —

Höherer Befehl zum Umzug nach Adlig-Heinrichsdorf:

Im Herbst 1946 trafen die ersten Transporte Zivilrussen in Nemmersdorf ein. Wir mußten nun unsere nett eingerichteten Unterkünfte für die Russenfamilien räumen und in andere Quartiere in der weiteren Umgebung des Lagers ziehen. 5 Lkw’s brachten mehrere Familien, die vorher vom Direktor für diesen Umzug bestimmt waren, nach dem ausgestorbenen Gut Adlig Heinrichsdorf. Es war ein totes, von Unkraut überwuchertes adl. Gut. Das Gutshaus war nur ein Trümmerhaufen, die übrigen Gebäude ohne Türen und Fenster.

Mit unserem Einzug zog hier wieder neues Leben ein, und deutscher Fleiß brachte bald Ordnung in diese jahrelang verwaisten Räume. Zwei Zimmerleute machten sich unverzüglich an die Instandsetzungsarbeiten, und die Frauen schafften den von den abgezogenen Truppen hinterlassenen Schmutz und Unrat aus den leeren Stuben. Nachdem wir uns die neuen Unterkünfte wieder wohnlich eingerichtet hatten, begannen die weiteren Aufräumungsarbeiten auf dem großen Gutshof und in den noch gut erhaltenen 3 massiven Ställen. Wie mir dann gelegentlich bei einer Besichtigung der Direktor mitteilte, würde in Kürze hier ein Pferdetransport — etwa 40 Pferde — für längere Zeit untergebracht werden. Der angekündigte Transport traf dann auch bald ein. Zur Betreuung der Pferde waren außer 2 erfahrenen älteren Kutschern keine weiteren geeigneten Männer vorhanden, die Gespanne übernehmen konnten. So mußten 12jährige Jungen und 15- bis 18jährige Mädchen die Pflege der Pferde übernehmen. Jeder dieser neugebackenen Kutscher bekam 2 Pferde (ein Gespann) anvertraut und hatte nun das Tränken, Putzen, die Sielen und seinen Wagen in Ordnung zu halten.

Die Aufsicht und Einteilung der Tagesarbeit der Gespanne wurde mir vom Direktor übertragen. Damit hatte ich eine große Verantwortung  übernommen, denn mit diesen jungen Menschen — zum Teil noch Kindern — mußte die Tagesnorm im Pflügen, Eggen, Dungfahren usw. erreicht werden. Jeden Abend hatte ich nun einen Arbeitsbericht der geleisteten Arbeit nach Nemmersdorf abzugeben. Die Tätigkeit übte ich noch bis zum Frühjahr 1947 aus, bis dann auch hier ein größerer Transport Zivilrussen eintraf und uns auch von hier wieder

verdrängte. Wir zogen nun nach dem Ort Pennacken, 3 km von Nemmersdorf entfernt. Durch den andauernden Zustrom russischer Familien wurde für uns Deutsche die Wohnungsfrage ein besonderes Problem. In diesem großen Gut, das noch gut erhalten war, wurden nun 2—3 Familien in einen Raum zusammengelegt. Auf die Dauer war dies ein unhaltbarer Zustand; denn jeder wollte sein Essen zuerst auf den Herd stellen und seine Mahlzeiten zur rechten Zeit fertig haben. Die Arbeitszeit begann bei Sonnenaufgang und endete mit Sonnenuntergang und betrug in den Sommermonaten täglich bis zu 15 Stunden. Wir lebten wie die Wilden. Von der Außenwelt isoliert, ohne Uhrzeit, ohne Zeitungsnachrichten und jahrelang ohne Lebenszeichen von den Angehörigen. Da auch an Sonn- und Feiertagen durchgehend gearbeitet wurde, verblieb uns zur körperlichen Reinigung keine Zeit. Die Folge dieser ungesunden Lebensweise — die unausbleibliche Läuseplage — war das Ergebnis. Seife war zu einem normalen Preis nicht zu bekommen und nur auf dem Gumbinner oder Wirballer schwarzen Markt zu unerschwinglichen Preisen zu haben. So kostete z. B. 1 Stück gewöhnlicher Riegelseife 30 Rubel, ein 2-kg-Brot 60—70 Rubel. Diese phantastischen Preise standen zu dem geringen Arbeitsverdienst in keinem Verhältnis. Wer noch in der glücklichen Lage war, irgend einen nützlichen Gegenstand oder Kleidungsstücke auf dem schwarzen Markt umzusetzen, konnte sich diesen Luxus einmalig leisten. Eine Frau mit 2—3 Kindern verdiente pro Tag 3, höchstens 5 Rubel. Dieser geringe Verdienst reichte gerade noch aus, um das Roggenmehl zur Herstellung der Mehlsuppe zu bezahlen. Kartoffeln gab es auf normalem Wege nur selten zu kaufen. Sie waren durch den anhaltenden Zuzug der vielen Russen sehr knapp und Mangelware. So mußten wir uns mit Kartoffelersatz, der Zuteilung von Runkelrüben bei der Verpflegungsausgabe begnügen, die abgekocht und in kleine Stücke geschnitten, statt Gemüse gekocht wurden.

Im Frühjahr, als die Natur uns die ersten Brennesseln schenkte, sahen wir von nun an hoffnungsvoller in die Zukunft. Hieraus bereiteten wir uns einen dickgekochten Spinatbrei. Als die Brennesseln dann größer und härter wurden, fanden wir Ersatz in der sogenannten Melde. —

Ein besonderes Kapitel war die Beleuchtungsfrage.

Wer nicht im Dunkeln sitzen wollte, hat sich seinen Beleuchtungskörper selbst hergestellt. Den Brennstoff hierzu, ein Treibstoffgemisch (Kirassin), mußte man sich von hinten herum besorgen. Streichhölzer waren nur auf dem schwarzen Markt zu 1 und 2 Rubel je Schachtel erhältlich. Das Leben wurde durch den großen Zustrom der unaufhörlich neu eintreffenden Nachbarn aus dem Osten immer unerträglicher. Die Lebensmittelversorgung wurde knapp und die Sklavenarbeit immer brutaler. Die schlechteste und schwerste Arbeit mußten unsere deutschen Frauen verrichten. Mit dem Beginn der Heuernte bekam ich ein neues Arbeitsgebiet — ich wurde Messerschleifer für Grasmähmaschinen und hatte nun jeden Tag für 6 Grasmäher auf einem Spezialschiffstein 12 Messer zu schleifen. Mein Dienst begann schon vor Sonnenaufgang, damit die Gespanne frühzeitig hinausfahren konnten. Diese Arbeit hielt auch während der Roggenernte bis zum halben August 1947 an. Als dann die Kartoffelernte näherrückte, mußte ich meine bisherige Tätigkeit einstellen und wurde von nun an Wachtposten an den Kartoffelmieten eines großen Kartoffelfeldes.

Mein neuer Dienst begann bei Eintritt der Dunkelheit und endete mit Anbruch des neuen Tages. Der Unterstand aus großen Wellblechtafeln mit Stroh verkleidet, befand sich auf einer Anhöhe am Waldesrand. Es war eine gefährliche Ecke, da in diesem Waldabschnitt ein Rudel Wildschweine sein Unwesen trieb. So lange das milde Wetter noch anhielt, ließ sich dieser Dienst auf einsamem Posten ertragen, als dann aber die Kälte und Schneetreiben einsetzten, war ein längerer Aufenthalt im Freien ohne Pelz und Filzstiefel unmöglich. Meine Fußbekleidung bestand aus gewöhnlichen Holzschuhen, in die der Schnee ungehindert eindringen konnte. So war ich gezwungen, ab und zu vorübergehenden Unterschlupf in einem 1 km entfernten Pferdestall zu suchen. Diesen Nachtdienst habe ich noch bis Ende Januar 1948 versehen und erkrankte dann an Erkältung mit hohem Fieber, daß ich das Bett wochenlang hüten mußte. Einen Arzt und Medikamente konnte man nicht bekommen. In dieser Zeit war nun ein Zivilrusse dort als Posten eingesetzt. Nachdem ich dann wieder so weit hergestellt war, bekam ich eine neue Arbeit im Innern.

Ich wurde nun Seiler (Strickedreher). Mit einem Labiauer Schicksalsgenossen, der hierin Kenntnisse besaß, habe ich gemeinsam im Akkord Stricke, Pferdeleinen (ein- und zweispännig) sowie 10 m lange Heuleinen für die Ernte aus ostpreußischem Mähmaschinenbindegarn gedreht. Der Tagesverdienst war ein guter, da diese Arbeit als Spezialarbeit gewertet wurde. Dies war der Abschluß und die letzte Tätigkeit während meiner für das Sowjetparadies geleisteten Reparations- und Sklavenarbeit. —

Vorbereitungen zur Abfahrt von Nemmersdorf:

Ende März 1948 erfuhren wir zum Teil von Zivilrussen, daß wir nun bald fortkommen würden und es dauerte auch nur noch einige Tage, bis ein russischer Polizeioffizier mit einem Dolmetscher von Gumbinnen in Nemmersdorf eintraf, um die Personalien der Heimkehrer für die Transportliste fertigzustellen. Schon zwei Tage danach begab ich mich mit gepacktem Rucksack und aufgerollter Schlafdecke mit meinem Wanderstab nach Nemmersdorf. Von hier aus erfolgte der Abtransport mit Lastkraftwagen über Stobricken, Kampischkehmen und Fichtenwalde nach der Verladerampe Goldaper Straße. Auf dieser Abschiedsfahrt habe ich unsern herrlichen Fichtenwald wohl zum letzten Male gesehen. Dort wächst nur noch Gestrüpp, Unkraut, und dazwischen stehen vereinzelt Laubbäume. Inmitten des ausgestorbenen Waldes steht einsam und verlassen das bekannte Denkmal des Holzflößervereins. Auch hier haben die „Kulturbringer“ des Ostens Bauschutt und sonstiges Gerumpel fuhrenweise abgeladen. Die Gaststätte Jodlack und die danebenliegende Schule sind gänzlich ausgebrannt. Die neue Artillerie-Kaserne dagegen ist unbeschädigt und mit russischen Soldaten belegt. Das Kraftwerk ist stark beschädigt. Bei unserer Ankunft auf der Verladerampe stand schon der Transportzug — bestehend aus geschlossenen Viehwagen ohne Sitzgelegenheit — für unsere Abreise bereit. Eine Anzahl Gumbinner Landsleute hatte sich eingefunden, um sich von uns zu verabschieden.

Am Abend des gleichen Tages ging die Fahrt bis Königsberg. Hier mußte alles aussteigen und sich nach einer nahegelegenen Halle zur Paßkontrolle begeben. Einzeln mußten wir durch eine Sperre, die von Zollbeamten besetzt war und hier unsern russischen Ausweis sowie die Brieftasche zur Einsichtnahme abgeben. Es sollte hier festgestellt werden, ob man noch alte Reichsbanknoten und sonstige verdächtige Papiere bei sich hatte. Wer größere Altgeldbeträge bei sich trug, dem wurden sie wortlos von den Zollbeamten abgenommen. Sogar Sparkassenbücher wurden den ahnungslosen Menschen gestohlen. Nach Erledigung all dieser Formalitäten durften wir dann, abgezählt zu je 30 Personen, die vorgeschriebenen numerierten Personenwagen besteigen. Für jeden dieser Wagen wurde ein Transportführer bestimmt, der für Ordnung und Sauberkeit zu sorgen hatte. Daraufhin wurde der Wagen abgeschlossen und verplombt. Russische Posten mit aufgepflanztem Bajonett patroullierten zu beiden Seiten, bis der Zug sich in Bewegung setzte. —

Abfahrt von Königsberg Pr.:

Noch am Abend des gleichen Tages verließen wir den Ponarther Bahnhof. Der Hauptbahnhof ist zerstört. Die Fahrt ging über Braunsberg—Allenstein—Osterode bis hinauf nach Pasewalk (Pom.). Dort wurden wir erstmalig auf deutschem Boden vom Roten Kreuz verpflegt. Es war ein eigenartiges Gefühl, nach jahrelanger Trennung jetzt mit freien Menschen über die Verhältnisse im übrigen Reich offen sprechen zu können. Eine andere Welt tat sich vor unseren Augen auf. Die Kinder, Kranken und alten Leute wurden hier in rührender Weise von den Helferinnen des DRK betreut. Dann ging die Fahrt über Berlin— Potsdam bis zum Quarantänelager Suhl (Thüringen). In den zwei Wochen Quarantänezeit versuchte nun jeder, Verbindung mit seinen Angehörigen zu bekommen. Da ich trotz vieler Bemühungen noch immer kein Lebenszeichen von meinen Angehörigen erhalten konnte, ließ ich dem Schicksal freien Lauf und fand mit noch einigen Landsleuten in Langensalza (Thüringen) Unterkunft. Von hier aus setzte ich meine Bemühungen fort und erfuhr dann, daß meine Familie sich noch in Dänemark aufhielt. Im Laufe des Spätsommers 1948 konnte ich dann in Zwiefaltendorf Kr. Ehingen, mit meinen Angehörigen das langersehnte Wiedersehen feiern. —

Riedlingen, im März 1950, gez. Ernst Wegner, Spätheimkehrer. —

Diesem Bericht fügt E. Wegner eine „Ehrentafel der im Arbeitslager der Sowchose 26 Nemmersdorf verstorbenen Gumbinner Landsleute und der Toten aus der näheren Umgebung“ an.

Sie enthält folgende Angaben:

  1. Burneleit, Auguste, ledig, Bismarckstraße. — 2. Dambrowski, Gerda, 21 Jahre alt, Gumbinnen. — 3. Eske, August, Schneider, Poststraße. – 4. Eske, Auguste, Ehefrau, 62 Jahre, Poststraße. — 5. Hefft, Fritz, Wehrmachtsangestellter beim Wehrbezirkskommando, Königstraße. — 6. Käswurm, Eduard, Ofensetzer, Gumbinnen. — 7. Käswurm, Ehefrau des Ofensetzers aus Gumbinnen. — 8. Kabjoll, Otto, Kellner, zuletzt bei Kaufmann Köhler i. d. Königstraße. — 9. Kämmer, August, Schuhmachermeister, Bismarckstraße 70. — 10. Meiser, Fritz Lokheizer aus Thuren bei Gumbinnen. — 11. Meyer, Gutsbesitzer aus Nemmersdorf. — 12. Meyer, Ehefrau des Gutsbesitzers aus Nemmersdorf. — 13. Noak, Auguste, Witwe, Goldaper Straße. — 14. Räder, 2 Kinder des Kaufmanns Räder, Wilhelmstraße. — 15. Schwadrat, Fritz, früher Eisenbahnhilfsarbeiter. — 16. Schaar, Maria und ihr 2jähriges Kind Erwin. — 17. Schulz, Beamtenwitwe, 70 Jahre alt, Goldaper Straße. — 18. Schlemminger, Fritz, Bauer, Wandlaudszen bei Nemmersdorf. — 19. Thimoreit, Max, Schneidemühlenbesitzer, Tannsee (Kasenowsken) bei Gumbinnen. — 20. Thimoreit, Auguste, Ehefrau des vorgenannten. — 21. Birnbacher, Holzhändler, Gumbinnen (in Stannaitschen verstorben). — 22. Conrad, Viehhändler, Goldaper Straße (in Stannaitschen verstorben). — 23. Klee, Paul, Fleischermeister, Goldaper Straße (nach Rückkehr aus russischer Gefangenschaft im Herbst 1949 an Tbc in Berlin verstorben). — 24. Nehrkorn, Eduard, 70 Jahre, früher Inspektor bei Rothgänger – Nemmersdorf. — 25. Bengatt, Gertrud, geb. Dadies, 25 Jahre alt, aus Gumbinnen. — 26. Hofer, Emilie, Witwe, Nemmersdorf. — 27. Hofer, Irene, 21 Jahre. — 28. Hofer, Henriette, Salzburgerhospitalitin, Gumbinnen. — 29. Gertenschläger, Dorothea, geb. Hofer, Nemmersdorf. — 30. Pilligkeit, Ehefrau aus Kulligkehmen. — 31. Keiluweit, Helene, Ehefrau, ca. 40 Jahre, Gumbinnen. — 32. Kröck, Karl, 70 Jahre, früher bei der Standortverwaltung Gumbinnen gearbeitet. —33. Julitz, Johann, 70 Jahre, Zimmermann, Nemmersdorf. — 34. Julitz, Auguste, Ehefrau, 70 Jahre, Nemmersdorf. —

Diese hier aufgeführten Toten stammen aus Gumbinnen und der nächsten Umgebung. Weitere 200 in Nemmersdorf verstorbene Leidensgenossen waren aus den Kreisen Pillkallen (Schloßberg), Stallupönen (Ebenrode), Insterburg, Königsberg und Labiau. Der größte Teil dieser unschuldigen Menschen ist dem Hungertode zum Opfer gefallen. —

Eine Liste über die weiteren Toten der obengenannten Kreise befindet sich beim Suchdienst Berlin W 8, Kanonoerstraße 35. —

Dieser Liste läßt E. Wegner eine „Übersicht über die am Leben gebliebenen Landsleute, denen es vergönnt war, aus dem Sowjetparadies zurückzukehren“ folgen:

  1. Bleyhöfer, Fritz, Zimmermann, Goldaper Straße. —  2. Bubritzki, Gustav, Tischlermeister, Bismarckstraße. — 3. Bertram, Eisenbahner,? Gumbinnen. — 4. Bertram, Ehefrau des Vorgenannten, Gumbinnen. — 5. Burneleit, Gertrud, Milchgeschäft, Bismarckstraße. — 6. Burneleit, Witwe des Friseurmeisters in der Sodeiker Straße. — 7. Bogatzki, Ehefrau, aus Gumbinnen. — 8. Groneberg, Ehefrau des Buchdruckers Groneberg. — 9. Jankowski, Johannes, Bauer aus Kulligkehmen. — 10. Krause, Franz, Schmied, Norutschatschen mit Frau und Tochter. — 11. Stein, Hermann, Fleischermeister, mit Ehefrau, Bismarckstraße. — 12. Schaar, Christel, Gumbinnen-Annahof. — 13. Schmidt, Otto, Tischlermeister, Gumbinnen. — 14. Trottner, Hans, Schneider, mit Ehefrau, Goldaper Straße. — 15. Leinweber, Maria, Ehefrau, und 3 Kinder. — 16. Woweries, Otto, Kaufmann, Nemmersdorf. — 17. Wegner, Ernst, Gumbinnen, Meelbeckstraße 30. — 18. Zenthöfer, Helene, Fleischermeisterwitwe, Goldaper Straße. —19. Walat, Anna, mit ihrem Sohn Heinz, Gumbinnen-Annahof. — 20. Paulat, Anna, mit Tochter, Gumbinnen. — 21. Dadies, Witwe, mit den Töchtern Liesbeth und Martha, Gumbinnen. — 22. Jasper, Frieda, Ehefrau, und 3 Kinder, Preußendorf. — 23. Schumacher, Gertrud, Preußendorf. — 24. Rausch, Auguste, Ehefrau, Wandlaudszen. — 25. Thies, Edith, mit den Kindern Hans und Martin, Mixeln. — 26. Schmogerow, August, mit Ehefrau, Mixeln. — 27. Sobras, Frieda, mit ihrem Sohn Erwin, Mixeln. —

Einen kurzen Bericht über die Kolchose Nemmersdorf gibt auch der ehemalige Nemmersdorfer Gastwirt (Weißer Krug) Otto Woweries am 28. Februar 1951:

„Am 9. April 1945 bin ich in Königsberg nach einer schweren Verwundung gefangen genommen worden. Alsdann wurde ich bis Preußisch-Eylau abtransportiert, dort ausgeheilt und nach Rußland (Smolensk) gebracht. Wegen meiner Verwundung kam ich in die Arbeitsgruppe III und wurde mit 400 Mann wieder zurücktransportiert, ins Lager Preußisch-Eylau. Gegen Ende 1947 teilte man uns verschiedenen Kolchosen zu, und ich hatte das Glück, nach Nemmersdorf in die Militär-Sowchose gebracht zu werden. Der Major, der mich empfing, sagte gleich, als er meinen Namen hörte: „Du Kapitalist!“, was anscheinend von der Kenntnisnahme meines Namens aus dem noch vorhandenen Firmenschild am Weißen Krug herrührte. Aber trotzdem bekam ich vom Bürgermeister, einem Polen, sehr gute Milchsuppe und Weißbrot zu essen. Mein Grundstück ist restlos bis auf die Grundmauern heruntergebrannt.

In der Kolchose gab man mir 2 Pferde, und ich habe dann sämtliche Arbeiten mitmachen müssen. Später kam ich ins Büro, wurde auch Brigadier und Kontrolleur und zuletzt sogar Posten (aber ohne Gewehr) bei den Dreschmaschinen, damit kein Getreide gestohlen wurde. Schweres Arbeiten und Hunger waren aber an der Tagesordnung. Wer nicht arbeitete, bekam nichts zu essen. Nachts gab ich den Arbeitern des öfteren heimlich etwas Getreide; denn teilweise war die Not außerordentlich groß, besonders bei den Familien, die mehrere Kinder hatten und diese miternähren mußten. Mit Wegner war ich in der ersten Zeit zusammen, Max Hartwich war auch Brigadier; er hatte einen Russenjungen geschlagen und kam dann von uns fort in ein Arbeitslager, ich glaube aber nur auf 5 Jahre. Dasselbe Schicksal hat viele von uns ereilt, darunter auch Frauen, die zu 7jähriger Zwangsarbeit abtransportiert wurden, meist wegen Lebensmitteldiebstahl. Allerdings gestohlen haben wir alle, weil wir sonst verhungert wären. Wer erwischt wurde, dem erging es dann schlecht.

Anfang 1948, als der Hunger doch zu groß wurde und der Verdienst zu klein war, sind viele, darunter auch ich, nach Gumbinnen in eine andere Kolchose weggelaufen. Wir fanden nun Arbeit, die sehr schwer war, aber bis zu 380 Rubel im Monat einbrachte. So fuhren wir nach Litauen und kauften uns dafür Lebensmittel. Es waren sehr schwere Jahre für mich, da ich solche Arbeit nicht gewöhnt war, und ich habe mich gewundert, daß ich das alles überstand. Die erste Zeit in der Gefangenschaft war allerdings die schwerste — wegen der vielen Vernehmungen, wobei es Prügel und Kolbenschläge gab.

Ich wohnte in Nemmersdorf im Kuhnschen Haus, sonst ist der Ort zum größten Teil zerstört. An Möbeln gab es fast gar nichts, da die Russen die meisten abtransportiert hatten. Fenster, Türen, Öfen, alles war fort. Vom Acker wurden nur die großen Flächen bestellt; alles andere ist von Dornen und Disteln überwuchert.

Im Oktober 1948 kam ich endlich von dort weg und 1949 nach Westdeutschland. Meine Familie war 3 1/2 Jahre in Dänemark gewesen.“