Wiekmünde


Übersicht – Quelle: Gumbinnen von Dr. Grenz

Wiekmünde

(Norgallen): Kirchspiel und Standesamtsbezirk Nemmersdorf. Amtsbezirk Angerhöh (Szuskehmen). — E.: 175. GH.: 790,— RM. G.: 363 ha. —

Eingeschult nach Angerhöh (Szuskehmen). —

1937: Bürgermeister: Bauer Fritz Schaumann. —

Post Norgallen über Gumbinnen (13 km). —

Landwirte: Fritz Grübner, Friedrich Hoffmann, Fritz Mattulat, Fritz Neumann, Alfred Weber. —

Bauern: Otto Eder, Artur Kremp (Jungbauer), Fritz Kremp (Jungbauer), Fritz Schaumann, Fritz Spießhöfer. —

Handwerker: Schmied Fritz Kurbjun. —

Weitere Berufe: Hilfsweichenwärter Otto Brandtner, Gendarmerie-Hauptwachtmeister Paul Erbe, Gastwirt Otto Hefft, Kutscher Reinhold Herhold, Melker Wilhelm Klitz, Melker Ernst Melschurat, Kraftfahrer Wilhelm Obermeit, Viehhändler Adolf Schäfer. —

Deputanten: Wilhelm Becker, Fritz Milletat, Hermann Pernau, Albert Seeler, Otto Westenberger. —

Arbeiter: Elisabeth Gerull, Fritz Holzmann, Gustav Justies, Emil Karoß, Eduard Lengling, Wilhelm Masekowitz, Gustav Reiner (Freiarbeiter), Friedrich Reuter, Albert Sagischewski, Eduard Schwarz, Franz Stagat, Wilhelm Weber (Landarbeiter), Mathes Wenau, Johann Wilk, Fritz Willnat. —

Sozialstatus: 9 Rentner, 2 Rentnerinnen, 1 Witwe, 1 Altsitzer, 1 Mann ohne Beruf. — Emil Schöneberg, Beruf nicht angegeben. —

1925: Gutsbesitzer Karl Haupt, 2 Landwirte, 8 Besitzer, 1 Eisenbahnassistent, 1 Weichenwärter, 1 Bahnarbeiter, 1 Gastwirt (Otto Hefft), 1 Fleischer, 2 Viehhändler, 1 Maurer, 1 Schuhmacher, 1 Sattler, 2 Rentner, 3 Kätner, 1 Freischweizer, 1 Melker. —


Im Archiv der Kreisgemeinschaft Gumbinnen 1 Ortsfragebogen, ausgefüllt von Fritz Schaumann 1966, dem letzten Bürgermeister des Ortes.

„Der Ort lag an der Angerapp und am Wiekfluß. Auf dem in der Gemarkung liegenden Kamsinberg befand sich höchstwahrscheinlich die spätpreußische Befestigung, die bei Dusburg in der Ordens-Chronik Camenis Wieke genannt wird. Auf dem nahen Kapinatisberg wurden wahrscheinlich die Toten der altpreußischen Siedlungszeit bestattet. —

Der letzte Bürgermeister war der Bauer Fritz Schaumann. Als er 1939 zur Wehrmacht einberufen wurde, übernahm der erste Schöffe und Stellvertreter, Bauer Otto Eder, die Leitung der Gemeinde. Im Laufe des Krieges trat er wieder ab (auch als Ortsbauernführer) und der Landwirt Fritz Mattulat trat an seine Stelle. —

Schule: Die im Durchschnitt 20 Kinder der Gemeinde gingen zur zweiklassigen Schule in Szuskehmen. Sie hatten hierzu einen Weg bis zu 3 km zurückzulegen. Die Gemeinden Szuskehmen und Norgallen bildeten den Schulverband Szuskehmen. In diesen Schulverband delegierten Szuskehmen 3 und Norgallen 2 Vertreter. Außerdem gehörten, so weit vorhanden, die Lehrstelleninhaber (Lehrer) dazu. Die erste Lehrerstelle hatte Lehrer Otto Grigo inne. Die zweite Lehrerstelle war, nachdem um 1935 Lehrer Meiser nach Kallnen versetzt war, nicht mehr besetzt. Der Grund hierfür lag wohl in den unzureichenden Wohnverhältnissen für die zweite Lehrerstelle. Der Unterricht wurde dabei recht und schlecht durch Schulamtsbewerber durchgeführt, was sich auf den Bildungszustand dieser Klasse auswirken mußte. —

Die westliche Gemarkungsgrenze der Gemeinde bildete auf einer Länge von ca. 3 km die Angerapp, während der Wiekfluß auf ca. 2 km die Ländereien der Gemeinde teilte. —

Unter den Männern, die sich um Norgallen verdient gemacht haben, wäre vor allen Dingen Landwirt Karl Haupt sen. zu nennen. Als Kreistagsabgeordneter erreichte er es, daß Norgallen mit seinen bisherigen sehr schlechten Wegeverhältnissen aus der stiefmütterlichen Behandlung durch den Kreis Gumbinnen herausgeführt wurde. Durch seine Initiative wurden die Kiesstraßen Nemmersdorf—Dinglauken, Norgallen—Buyliener Forst und Norgallen— Stulgen gebaut. Auch die für Norgallen sehr günstige Linienführung der Eisenbahn Gumbinnen—Angerburg ist sein Verdienst. —

Die Sicherheit wurde durch den Gendarmerieposten Nemmersdorf gewährleistet, wie auch vertretungsweise durch den Gendarmerieposten Szublauken. Der letzte Polizeibeamte war Gendarmeriemeister Erbe, der zuletzt auch in Norgallen wohnhaft war. —

Norgallen besaß eine Gastwirtschaft, die von dem Pächter Otto Hefft betrieben wurde, der auch das einzige Kolonialwarengeschäft besaß. —

Als selbständige Handwerker waren 1. Schmiedemeister Fritz Grübner. 2. Fleischermeister Paul Kaminski und 3. Zimmermeister Franz Schlösser vorhanden.

An Bauern und Landwirten waren sesshaft: 1. Alfred Weber, ca. 500 Morgen, 2. Otto Eder, ca. 330 Morgen, 3. Fritz Schaumann 200 Morgen, 4. Fritz Spieshöfer 175 Morgen, 5. Friedrich Hoffmann 20 Morgen, 6. Fritz Neumann ca. 20 Morgen, 7. Paul Kaminski ca. 15 Morgen, zugleich Fleischermeister, 8. Fritz Mattulat ca. 15 Morgen zugleich Fleischbeschauer, 9. Franz Schlösser 10 Morgen, zugleich Zimmermeister, 10. Fritz Grübner ca. 10 Morgen, zugleich Schmiedemeister, 11. Karl D’ham ca. 10 Morgen. —

Gewerbliche Mühlen gab es in Norgallen nicht, da im benachbarten Kissehlen eine neuzeitlich eingerichtete Wassermühle vorhanden war; doch besaßen die Bauern Weber, Eder, Schaumann und Spieshöfer je eine, der Größe ihrer Betriebe entsprechende, durch Motor betriebene, Schrotmühle, die das Korn für die Viehfütterung verarbeiteten. —

Über die Gründung der Gemeinde Norgallen sind leider keine Unterlagen vorhanden. Durch die Kriegsereignisse 1812 und 1914, bei denen fremde Truppen durch Norgallen zogen, sind die örtlichen Akten weitgehend verlorengegangen. Hinzu kommt noch, daß ein Bürgermeister der Gemeinde in der Inflationszeit nach dem Ersten Weltkrieg, Karl Kaminski, beeinflußt durch die allgemeine Papiergeldentwertung, diese auch auf die alten Akten bezog und dieselben kurzerhand verbrannte.

Was mir heute noch bekannt ist, habe ich durch mündliche Überlieferung des langjährigen Bürgermeisters Friedrich Hoffmann erfahren. —

 

Der Ortsgründer ist unbekannt, nach Anfrage an die Namensforschungsstelle in Königsberg Pr. soll Norgallen die Zusammensetzung zweier litauischer Ausdrücke bilden und „Wunsch-Ende“

heißen. Es gibt aber auch Personen mit dem Familiennamen Norgall; ein  Zusammenhang mit der Ortsgründung läßt sich jedoch nicht herstellen. —

Nach der großen Pest 1709/10 kamen Salzburger Siedler nach Norgallen.  —

Bis 1914 war Norgallen verkehrstechnisch nach Darkehmen orientiert, obwohl dieser Ort 15 km und Gumbinnen nur 11 km entfernt lag. Nachdem 1914 die Eisenbahn Gumbinnen-Angerburg und nach 1918 die Kiesstraße Norgallen-Stulgen gebaut waren, erlosch das Interesse an Darkehmen fast vollständig und die wirtschaftlichen Beziehungen verlagerten sich immer mehr nach der Kreis- und Regierungsstadt Gumbinnen, zumal auch die Postbeförderung in den Jahren kurz vor dem Zweiten Weltkrieg von Gumbinnen aus mit kleinen Kraftomnibussen, die auch Personen beförderten, eingerichtet wurde. —

Brände, Hagelschlag und andere Naturschäden haben Norgallen weitgehend verschont, wobei, was die Brandgefahr betrifft, die aufgelockerte Bauweise des Dorfes beitrug.

Im Ersten Weltkrieg wurde durch die Abholzung der Waldbestände an Angerapp und Wiek erheblicher Flurschaden verursacht. Die Abholzung war zur Freilegung des Schußfeldes für die Angerappstellung von der Wehrmacht angeordnet und durchgeführt. Gebäudeschäden entstanden damals kaum, wenn man von der Wegnahme des fertigen Bauholzes des Bauern Schaumann zum Brückenbau bei Kissehlen durch die Russen absieht.

Norgallen hatte im Ersten Weltkrieg 9 Soldaten und 3 Zivilisten verloren. Nach Sibirien verschleppt wurden weitere 3 Personen. Über die Verluste des Zweiten Weltkrieges kann ich keine genauen Angaben machen.“


Im Archiv der Kreisgemeinschaft Gumbinnen befinden sich weitere Aufzeichnungen von Fritz Schaumann, darunter auch ein mehrere Seiten umfassender Lebenslauf von ihm selbst sowie eine große farbige Gemarkungskarte mit Eintragung der Namen der Besitzer der einzelnen Höfe und der Flurnamen.

Ein Aufsatz über die Feuerwehr findet an entsprechender Stelle im vorliegenden Buch Verwendung.

Schließlich stammt von F. Schaumann eine 5 Blatt umfassende Niederschrift mit dem Titel „Norgallen“ aus  dem Jahre 1951.

Danach gab es in Norgallen auch Bienenzüchter: „Schaumann mit 34 Völkern, Kaminski mit 8, Hefft mit 14, Neumann mit 5 und D’ham mit 12 Bienenvölkern. Der Ertrag an Honig betrug pro Volk ungefähr 50 Pfund. —

Auch gab es am Orte ein reges Vereinsleben, den Kriegerverein Norgallen mit seinem Vorsitzenden Franz Karper – Szuskehmen, den Schützenverein Norgallen unter Leitung von Fritz Schaumann, die freiwillige Feuerwehr Szuskehmen und einen landwirtschaftlichen Versuchsring, der unter Anleitung der Landwirtschaftsschule Gumbinnen Versuche machte, um dem Boden die höchstmöglichen Erträge abzugewinnen.

Auch gab es einen Brandschadenhilfsverein.

Der Boden bestand aus humosem, lehmigem Sand und war für den Getreidebau denkbar günstig. Die Gemeinde hatte außerdem ca. 1400 Obstbäume.“


Ein Bericht von 3 1/4 Seiten schildert die Flucht, abgefasst am 04.12.1952 von Frau Schaumann.

In diesem heißt es:

„In der Nacht vom 20. zum 21. Oktober 1944 war der schreckliche Moment gekommen, den die Grenzbewohner des Ostens so sehr gefürchtet haben und der der älteren Generation von 1914 noch in unliebsamer Erinnerung war, nämlich das Heranrücken der russischen Soldateska. Das Notwendigste war in den Tagen zuvor schon gepackt und die Fahrzeuge fertig gemacht, obwohl noch am 20.10. dem Ortsbauernführer Weber bei der Kreisbauernschaft gesagt wurde: Wehe dem, der flüchtet! Die Ortsgruppe Nemmersdorf gab am 20.10. um 14 Uhr, den Befehl zum Fertigmachen. Am 21. sollte sich alles, was im Bereich der Ortsgruppe wohnte, um 11 Uhr in Adamshausen melden und von dort sollte der Treck geschlossen abfahren. Ein, der Viehzahl entsprechender Treiberstab sollte am 22. das Vieh abtreiben. Am Nachmittag des 20.10. trafen die aus den Ortschaften nach Walterkehmen (Großwaltersdorf) entsandten  Befestigungsarbeiter ein und berichteten von den erfolgten Luftangriffen auf sie und wie die Parteiführer, die bisher ihre Aufseher waren, darauf verschwunden seien. Der Kanonendonner kam inzwischen immer näher. Am Abend war er bereits aus Richtung Buyliener (Schulzenwalder) Wald zu vernehmen und noch immer kam kein Befehl zum Abrücken. Wir schlachteten 16 Gänse ab und verpackten sie ungerupft auf die Fahrzeuge. Ich schickte am Abend einen der Leute zu meiner Schwägerin nach Szuskehmen, damit auch sie sich fertigmachen sollte, um mit uns gemeinsam abzufahren. Herr Hefft – Norgallen rief um ca. 2 Uhr nachts an und sagte, daß wir sofort abfahren und über Norgallen kommen sollten. Er hätte noch viele Sachen, die er nicht mitnehmen kann und nicht gerne dem Russen überlassen möchte. Zu dieser Stunde war Norgallen aber durch Fahrzeuge bereits verstopft und da ich die Kissehler Brücke in der Nähe hatte, lehnte ich ab. Da die Abfahrt meiner Schwägerin durch widrige Verhältnisse sich bis 3 Uhr verzögerte, konnten wir auch erst um diese Zeit abfahren. Gleich hinter der Kissehler Brücke war ein Trecker steckengeblieben und versperrte für längere Zeit den Weg. Zu dieser Zeit wurden die Stellungen am Ostufer der Angerapp von deutscher Wehrmacht besetzt, die das Vordringen der Russen glücklicherweise etwas aufhielten. So war es möglich, daß wir noch rechtzeitig durchkommen konnten. Der Schwiegervater stellte an der Brücke fest, daß er seine Brieftasche zu Hause liegen gelassen hatte und ging noch einmal zurück, um sie zu holen. Er erzählte nachher, daß dort oben ein netter Feuerzauber sei. Während wir an der Brücke warten mußten, war ein dichter Nebel, der wahrscheinlich künstlich erzeugt war. Um 6 Uhr kamen wir endlich aus der Gefahrenzone bei der Brücke heraus und erreichten über Kieselkeim (Kieselkehmen) die Hauptstraße, wo wir von Feldgendarmen nicht nach Adamshausen, sondern über Kallnen nach Sodehnen umgeleitet wurden. Bei Spirokeln fuhr der Landwirt Weeder aus Jäckstein mehrmals in unseren Federwagen, auf dem meine alten Schwiegereltern und meine Schwägerin saßen, dessen Rückenteil durch die Deichsel seines Wagens zertrümmert wurde. Am Tage vorher hatte Weeder meiner Schwägerin ein Pferd aus ihrem Stall geholt und dabei gesagt, heute gehe Gewalt vor Recht. Von Sodehnen führte unser Weg weiter in Richtung Trempen. Vor Trempen mußten wir, da nirgends Ubernachtungsmöglichkeiten zu finden waren, im Freien kampieren, wo auch die von Hause mitgenommenen Gänse gerupft und klein gemacht wurden.

 Am nächsten Tage erfuhr ich, daß man in Trempen um 10 Uhr weiteren Befehl erhalten würde und ich fuhr per Fahrrad dorthin. Ich traf aber lediglich Herrn Justies – Tutteln, der mir sagte, daß alle Flüchtlinge der Ortsgruppe Nemmersdorf  bereits weitergefahren seien und wir sollten so schnell wie möglich nachfolgen. Von ihm erfuhr ich auch nähere Einzelheiten über die russischen Greueltaten in Nemmersdorf, denen wir glücklich entgangen waren. Wir setzten dann auch sofort unsere Fahrt in Richtung Gerdauen fort. Durch vieles Umleiten erreichten wir erst am 25.10. Löwenstein, Kr. Gerdauen, wo wir eigentlich hinkommen sollten. Dort trafen wir auch zum ersten Male die Bekannten aus unserer Gegend, die uns schon vermißt hatten und das Schlimmste befürchteten.

Am 26.10. waren alle Treckführer, zu dem auch mich die Verhältnisse gemacht hatten, zur Schule beordert, wo uns eröffnet wurde, daß am nächsten Tage die Ortsgruppe geschlossen weiterfahren und im Kreise Osterode Quartier beziehen würde. Meine Schwägerin, die hochschwanger war, wurde, um ihr die Strapazen der Wagenfahrt zu ersparen, mit dem Zuge nach Wittigwalde, Kr. Osterode, unserem neuen Reiseziel, geschickt. Sie gelangte aber nicht dorthin, sondern nach Hohenstein, wo sie in einer Schule, die zum Massenquartier eingerichtet war, untergebracht wurde, von wo ich sie dann später abholte.

Am 28.10. fuhren wir dann im Treck weiter. Die geplante geschlossene Weiterfahrt ließ sich aber nicht durchführen und mit Hefft, Neumann, Julitz und Mattulat erreichten wir Wittigswalde am 03.11. Am 02.11. trafen wir abends spät in dem Quartier unseres Ortsgruppenleiters ein und wollten, da es spät war, und die Pferde übermüdet, dort übernachten. Die Bitten von Hefft und Mattulat wurden aber glatt abgelehnt, obwohl das Weißärmelsche Schloß, in dem die Herren sehr gut untergebracht waren, genügend Platz bot. Endlich wurde uns doch ein Zimmer freigegeben und später bot man meinen Schwiegereltern auch ein Bett an. Am anderen Tage trafen wir dann in Wittigwalde ein. Den Letzten beißen die Hunde, heißt es, und so erging es uns auch: Es gab kein Quartier für uns. Bei strömendem Regen standen wir auf der Dorfstraße. Der wenig tatkräftige Bürgermeister brachte es gegen Abend fertig, ein leeres Gastzimmer für uns, die wir 12 Personen waren, freizumachen. Die Fahrzeuge mußten im Freien an der Straße stehen. Nachdem ich erfahren hatte, daß sich meine Schwägerin in Hohenstein befindet, holte ich diese am 05.11. von dort ab. Da dieser Zustand in Wittigwalde unhaltbar war, fuhr ich am 08.11. nach Deutsch-Eylau, um bei meinem dort wohnenden Vetter eine menschenwürdige Unterkunft zu finden. Dort fand ich volles Verständnis für unsere Lage und wir siedelten am 11.11. nach Deutsch-Eylau über. Durch die Bemühungen meines Vetters erhielten wir Arbeit und damit auch Futter für die Tiere. Hier verbrachten wir die Zeit bis zur endgültigen Räumung unserer Heimatprovinz. Als der Russe aus unserem Heimatdorf wieder zurückgedrängt war, war ich noch zweimal nach Hause gefahren, um noch wichtige Sachen abzuholen und mich über das Schicksal des Hofes zu orientieren. Die Gebäude fand ich wohl erhalten vor, doch Möbel und Hausrat waren wüst durcheinander gewirbelt. In Norgallen waren das Gasthaus Hefft, die Insthäuser und Wirtschaftsgebäude von Weber und der Stall von Neumann abgebrannt, während die Gebäude von Hoffmann durch Granaten schwer beschädigt waren.

Weihnachten 1944 wurde meine Schwägerin von einem Sohn entbunden und befand sich bis zum 15.01.1945 im Krankenhaus in Deutsch-Eylau.

Am 17.01.1945 wurde auch in Dt.-Eylau die Lage bedrohlich und wir trafen wieder die Vorbereitung zur Abfahrt durch Beladen der Fahrzeuge. Am 19.01. waren feindliche Panzer durchgebrochen und standen abends nahe bei der Stadt. Der allgemeine Befehl, der ausgegeben wurde, lautete: Fußmarsch in Richtung Rosenberg! Bei der allgemeinen Kopflosigkeit gab mir mein russischer, treuer Arbeiter Peter den Rat, nicht zu Fuß, sondern mit Fuhrwerken, die ja fertig bepackt dastanden, weiterzufahren. Dieser naheliegende Rat wurde dann auch befolgt und wir fuhren mit 5 Fahrzeugen die vorgesehene Rückmarschstraße entlang. 12 km hinter Deutsch-Eylau wurde Halt gemacht, da sich die Lage an der Front etwas beruhigt hatte. Die stark verstopften Straßen erlaubten nur ein langsames Vorwärtskommen, so daß wir ständig in der Gefahr der Feuerlinie blieben. Bei Rosenberg gerieten wir wieder zwischen die Fronten und kamen nur mit knapper Not aus der Frontlinie heraus. Wegen Überfüllung war fast nirgends Unterkunft zu bekommen, auch wurde meistens die Nacht zum Fahren benutzt, da dann die Straßen eher passierbar waren. In einer Nacht war uns in der strengen Kälte unser jüngster Sohn Heini erstarrt. In Riesenburg haben wir dann meine Schwägerin mit ihren Kindern und meine Schwiegereltern in den letzten, noch verkehrenden Wehrmachtszug verladen, der sie nach Bütow in Mecklenburg brachte. Von Riesenburg aus ging die Fahrt für uns weiter über Stuhm und Marienburg, wo gerade das Munitionslager und der Flugplatz gesprengt wurden. Auf der Autobahn bei Dirschau überquerten wir die Weichsel. In Preußisch-Stargardt trafen wir wieder mit der Stadtverwaltung und Polizei aus Deutsch-Eylau zusammen. Nach vieler Mühe gelangten wir bis Stolp in Pommern. Unser Ziel war Schlawe in Pommern, wo mein Vetter ein Ausweichlager seines Betriebes eingerichtet und wir einen Teil unserer Sachen vorher abgesandt hatten. Wenn wir vorher geglaubt hatten, dort sicher zu sein, so wurde die Lage auch dort bald bedrohlich.

Anfang März erfuhren wir, daß der Russe bei Köslin bereits die Ostsee erreicht hätte und wir daher vom Reich abgeschnitten wären. Uns blieb daher nur noch der Ausweg über See und wollten dann nach Stolp fahren, doch der Russe war schneller als wir und holte uns am 07.03.1945 in Ziegnitz ein. Mein Vetter war am 05.03. zur Wehrmacht gezogen und ich stand daher mit meinen Kindern und den Fahrzeugen allein. Als der Ruf ertönte: „Der Russe ist da!“, war die Angst — auch unter den uns begleitenden Fremdarbeitern — groß. Selbst vor Angst schlotternd, trat unser Peter zu mir und sagte: Frau, nicht Angst haben. Ich sorgen werde, daß Russki nichts tun euch! Meine 5 Kinder versammelte ich um mich und harrte der Dinge, die nun kommen sollten. Die Russen kamen an und wir standen mit erhobenen Händen da. Unsere russischen Arbeiter wurden über uns ausgefragt und da diese nichts Nachteiliges über uns aussagten, geschah uns auch weiter nichts. Zu dieser Zeit befanden wir uns im Stallgebäude. Später ging ich dann mit meinen Kindern in eine leerstehende Stube in einem Insthause. Unsere Fahrzeuge waren inzwischen geplündert und der Inhalt in den Schmutz getreten. Peter brachte uns später noch etwas von unseren Sachen herbei. Die russischen Arbeiter wurden registriert und nach Hause geschickt. Schweren Herzens mußte auch Peter von uns Abschied nehmen, ging er doch auch einer Ungewissen Zukunft entgegen. Als der Vormarsch über uns hinweg gebraust war, setzte eine allgemeine Plünderung durch Polen ein. Nach 14 Tagen wurde das Gut Ziegnitz in Militärverwaltung genommen und das Vieh aus der Umgegend hier zusammengetrieben, um später abtransportiert zu werden. Die Arbeit in der Kolchose begann. Während die  Volksdeutschen als gehobene Arbeiter eingesetzt wurden, mußten die Deutschen die gewöhnlichen Arbeiten verrichten. Erst wurden meine beiden 13- und 14jährigen Söhne beim Zusammentreiben des Viehs beschäftigt. Später wurden diese, sowie auch meine 15-jährige Tochter zum Schafehüten genommen. Als eines Tages bei starkem Regen die Schafe früher als vorgesehen zum Stall gebracht wurden und die Kinder sich trockene Kleider anziehen wollten, sollte ich zur Strafe in den Keller gesperrt werden. Die Strafe wurde mir dann aber doch erlassen. Die Norm, d. h. Verpflegung in Form von Brot, Fleisch und Milch wurde nur an die in der Kolchose Beschäftigten ausgegeben. Als später die Schafe nach einem andern Gut abgetrieben wurden, hörte die Ausgabe der Verpflegung an uns auf und die Not begann.

Anfang Oktober kamen zwei Frauen, die Ende September von den Polen nach Berlin abgeschoben waren, zurück, um Sachen zu holen und ich faßte den Entschluß, mit meinen Kindern auch nach Berlin und später weiter nach dem Westen zu fahren. Bestärkt wurde dieser Entschluß noch dadurch, daß in der Umgegend ganze Dörfer an die polnische Verwaltung übergeben wurden und diese sofort alle Deutschen aus ihren bisherigen Wohnungen vertrieb. Nachdem ich mir mit vieler Mühe bei der polnischen Behörde in Schlawe die Ausreisegenehmigung beschafft hatte, fuhren wir am 18.10. von Schlawe mit dem Zug ab und kamen bis Stettin. Unterwegs wurde der Zug bereits von polnischen Banditen heimgesucht und die deutschen Reisenden beraubt. In unserem Abteil befanden sich russische Soldaten und daher blieben wir einstweilen verschont. In Scheune, einem Vorort von Stettin, fiel dann auch ein Teil unserer bis dahin mitgeführten Habe den Banditen zum Opfer. Wir waren weiter Zeuge, wie ein Mädchen und ein Mann von Polen bis aufs Hemd ausgezogen und dann stehen gelassen wurden. Endlich fanden wir auf einem russischen Militärtransportzug im Wasserbassin der Lokomotive Platz und fuhren über Pasewalk nach Berlin, wo ich meinen dort wohnenden Vetter in Zehlendorf aufsuchte, durch dessen Beihilfe es mir nach einigen Tagen gelang, eine Reisegenehmigung bis zur Zonengrenze bei Göttingen zu erlangen. Der Zug ging damals nur bis Heiligenstadt. Die 20 km lange Strecke bis zur Zonengrenze mußte zu Fuß bewältigt werden, wozu wir 3 Tage brauchten, weil die Zahl der Grenzgänger überaus groß war und die Abfertigung durch die russische Grenzbehörde sehr langsam gemacht wurde. Nach dem Übertritt auf britisch verwaltetes Gebiet gingen die Formalitäten dann bedeutend schneller vor sich und wir gelangten am 02.11. in Königsmoor, wohl verlaust und hungrig, aber sonst heil an. Hier erfuhren wir, daß meine Schwiegereltern und meine Schwägerin, die wir in Riesenburg einem Wehrmachtszug anvertraut hatten, gut in Bützow in Mecklenburg angekommen waren. Letztere hatte sich inzwischen auch in Königsmoor eingefunden. Über das Schicksal meines Mannes, von dem ich seit Januar 1945 keine Nachricht hatte, konnte ich auch hier nichts erfahren. Er traf erst im März 1946, aus der Gefangenschaft kommend, bei uns ein.“